Weltstrafgerichtshof in schwerer Krise
Am Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag (ICC) setzen sich die Austritte von Mitgliedsländern fort. Nach mehreren afrikanischen Staaten kehrte am Mittwoch auch Russland dem Gerichtshof den Rücken und warf diesem eine parteiische Haltung vor. Was steckt hinter dieser Rücktrittsserie?
Comeback des kollektiven Egoismus
Nationale Egoismen sind auf dem Vormarsch und fügen dem Völkerrecht schweren Schaden zu, erklärt Die Welt:
„Der Mitgliederschwund beim Strafgerichtshof fügt sich ein in die bedenkliche Erosion von völkerrechtlichen Institutionen und Abkommen. Die Welt ist politisch aus den Fugen und die globalen wie regionalen Ordnungssysteme sind es auch. ... Die Vereinten Nationen degenerieren zum Spielball der Mächte: Der Sicherheitsrat kümmert sich nicht im Auftrag aller Mitgliedstaaten um die Wahrung des Weltfriedens, sondern wird als Bühne nationaler Machtpolitiken missbraucht. Ausgerechnet in Zeiten, in denen sich globale Herausforderungen wie Terrorismus oder Migration um nationale Grenzen nicht scheren, gerät die Selbstbeschränkung der eigenen Souveränität zum Wohle aller aus dem Blick, und der kollektive Egoismus feiert ein Comeback. Das Völkerrecht insgesamt steckt in der Krise.“
Nicht nur Despoten sind schuld
Daran, dass derzeit ein Land nach dem anderen dem ICC den Rücken kehrt, sind auch die USA schuld, erklärt Der Standard:
„Kenia und Gambia sind auf dem Weg zum Exit, auch der philippinische Präsident Rodrigo Duterte beschied dem Gericht 'Nutzlosigkeit'. Gemeinsam haben die Staaten eines: die Sorge ihrer Regierungen, selbst Ziel der Richter zu werden. Gegen Kenias Präsidentenduo wurde bis vor kurzem ermittelt. Dutertes Antidrogenkrieg hatte der ICC ebenso kritisiert wie Russlands Vorgehen in Georgien, der Ukraine und in Syrien. Doch die Probleme des Weltgerichts nur auf die Angst dieser möglichen Angeklagten vor den Richtern zu schieben, greift zu kurz. So haben sich auch Befürworter in den USA nie durchgerungen, eigene Soldaten der ICC-Rechtsprechung auszusetzen. Die Ideale, die einst zur Gründung des ICC führten, verblassen. Das ist auch jenen zuzuschreiben, die sie nur für andere gelten lassen wollten, als sie die Chance hatten, sie universell durchzusetzen.“
Gebt dem Tribunal Zeit
Die Weltgemeinschaft sollte, bei aller berechtigten Kritik, am Internationalen Strafgerichtshof festhalten, fordert NRC Handelsblad:
„Auch der großzügigste Beobachter wird feststellen, dass der Gerichtshof bisher keine großen Resultate verbuchte. ... Dennoch ist es offensichtlich, dass der ICC eine Funktion hat, lokale Machthaber, die Verbrechen begehen, zur Verantwortung zu rufen. Ob es nun um die Katastrophe von Flug MH17 geht, den Einsatz von Giftgas in Syrien, die Aushungerung der Bevölkerung von Nordkorea - immer wieder wird die Frage gestellt: 'Ist das nicht ein Fall für den ICC?' ... Vielleicht bricht nun eine schwierige Periode für das Gericht an. Aber dieses noch junge Instrument des internationalen Strafrechts darf nicht aufgegeben werden - wie unvollkommen es auch sein mag. Die Welt muss achtsam mit dem ICC umgehen. “
Plötzlicher Sinneswandel in Afrika
Die jüngsten Vorwürfe gegen das Haager Tribunal stehen im Widerspruch zum früheren Verhalten afrikanischer Länder, beklagt Les Echos:
„Gewiss können die Vorwürfe nachvollziehbar sein, denn acht der neun Länder, gegen die am Internationalen Strafgerichtshof Verfahren laufen, befinden sich in Afrika. Sie sind jedoch deplatziert, da es sich in fast allen Fällen um Regierungen handelt, die - wie die ruandische nach dem Grauen des Völkermords 1994 - das internationale Tribunal selbst angerufen haben. Die große Ausnahme ist Kenia. Die Anklage gegen den kenianischen Präsidenten [Uhuru Muigai Kenyatta] und seinen Vize wegen Gewalttaten infolge von Wahlen wurde vom Strafgerichtshof erhoben. Gewiss ist die internationale Rechtsprechung unvollkommen, doch ist sie es wert, verteidigt zu werden. ... Ihr Ziel ist es, Opfer zu verteidigen und die Mächtigen nicht entkommen zu lassen, egal ob sie aus Afrika oder von anderswo stammen.“
Südafrikas Rückzug ist folgenschwerer Fehler
Die Entscheidung der südafrikanischen Regierung, aus dem Internationalen Strafgerichtshof auszutreten, ist eine Ermutigung für diktatorische Herrscher, schimpft der Economist:
„Es ist unvorstellbar, dass Nelson Mandela so etwas getan hätte. So gut wie alle vernünftigen Liberalen und Juristen in seinem Land haben den Schritt verurteilt. Im Namen des Protests gegen eine angebliche anti-afrikanische Befangenheit des Gerichts reiht sich Südafrika auf eine Linie ein mit den Autokraten des Kontinents und leistet jenen Beistand, die schreckliche Menschenrechtsverletzungen begangen haben. ... Es wäre tragisch, wenn Südafrika damit einen Dominoeffekt auslösen würde, der immer mehr afrikanische Staaten dazu bewegt, den Strafgerichtshof zu verlassen. Eine Austrittswelle würde die erreichten Fortschritte in puncto Rechtsstaatlichkeit auf dem gesamten Kontinent und darüber hinaus zunichte machen.“