Wie gespalten ist die Türkei nach Referendum?
Nach dem hauchdünnen Sieg von Präsident Erdoğan im Referendum zur Einführung eines Präsidialsystems gehen die Menschen weiter in mehreren türkischen Städten auf die Straße und protestieren gegen Wahlbetrug. Oppositionsparteien hatten vergangene Woche eine Annulierung der Abstimmung gefordert, die von der Wahlkommission abgelehnt wurde. Die Unzufriedenen müssen sich nun zu einer Opposition vereinen, fordern Kommentatoren.
Opposition muss sich organisieren
Das knappe Ergebnis macht Erdoğan zum eigentlichen Verlierer, doch das allein reicht nicht, warnt Kolumnist Hasan Cemal auf T24:
„Es macht aus einer demokratischen Perspektive Hoffnung, dass verschiedene Teile der Gesellschaft, unterschiedliche Linien des politischen Spektrums, sich zu einem 49-prozentigen Nein zusammenfinden konnten. ... Aber da höre ich schon auf. Damit Erdoğan endgültig besiegt werden kann, muss noch viel getan werden. Hätte das Nein vorne gelegen, hätte dasselbe gegolten, es wäre immer noch viel zu tun gewesen. Diejenigen, die Nein zu Erdoğan, Nein zum Ein-Mann-Regime gesagt haben, stehen jetzt vor einer kritischen Phase der Demokratie. Die wichtigste und gar nicht so einfache Aufgabe dieser Phase ist es, die 49 Prozent zu organisieren. ... Wenn sie das jetzt nicht schaffen, wird sich dieser demokratische Block bei der [Präsidentschafts-]Wahl 2019 nicht vor weiteren Enttäuschungen bewahren können.“
Kaum mehr Zweifel an Betrug
Die Vorwürfe des Wahlbetrugs werden in der breiten Bevölkerung geteilt, beobachtet Evrensel:
„Während weiterhin Bürger, die Unregelmäßigkeiten beim Referendum bemängeln und dessen Annullierung beantragen, auf den Straßen ihren Unmut zum Ausdruck bringen, fahren auch viele aus der Politik und den Medien damit fort, Äußerungen zu tätigen oder Artikel zu schreiben, in denen sie die Annullierung des Referendums fordern. Darüber hinaus zeigen Berichte 'von der Basis', dass Bürger, die mit Ja gestimmt hatten, bei Diskussionen am Arbeitsplatz, in Cafés und auf öffentlichen Plätzen die ungleichen Bedingungen während des Wahlkampfs und den Sieg des Ja nicht verteidigen können, sich regelrecht davor hüten, es zu verteidigen. Dieses Referendum bedrückt also nicht nur die Nein-Wähler, sondern lastet auch auf dem Gewissen eines gewichtigen Anteils der Bürger, die mit Ja gestimmt haben.“
Erdoğan weiß seine Wähler hinter sich zu scharen
Nach dem knappen Wahlergebnis wird Präsident Erdoğan nicht zu einer versöhnlichen Rhetorik übergehen, ist Hürriyet Daily News sicher:
„Er ist nicht darum bemüht, eine Einigung herbeizuführen. Sein einziges Ziel ist es, diejenigen zusammenzuhalten, die für seine Partei stimmten, ein Abrücken zu verhindern. Bis heute hatte er damit Erfolg. Nur ein einziges Mal, in diesem Referendum, konnte er jene Massen nicht beeinflussen, die normalerweise in Wahlen für seine Partei stimmen. Aber wenn es um Wahlen geht, weiß er nur zu gut, dass er bekommt was er will, wenn er es schafft, dass sich seine Wählerschaft bedroht fühlt. Bedrohungen gibt es viele. Er kann eine Armee an Feinden erschaffen, angefangen bei der Europäischen Union, bis hin zu einem nicht näher bestimmten Strippenzieher sowie jenen, die ein System, der Bevormundung unterstützen, obwohl niemand genau weiß, wer diese eigentlich sind.“
Opposition bleibt lebendig
Die Opposition in der Türkei wird sich den kommenden Repressionen nicht beugen, prophezeit Kansan Uutiset:
„Die Zukunft der Türkei sieht im Hinblick auf die Demokratie, Menschenrechte und Meinungsfreiheit düster und deprimierend aus. Schon vor dem Referendum wurden Beamte verfolgt und massenhaft entlassen, Journalisten und Abgeordnete der kurdenfreundlichen HDP wurden verhaftet, Zeitungen geschlossen und die Medien zum Sprachrohr des Präsidenten gemacht. Erdoğans Maßnahmen werden sich verschärfen und das türkische Volk noch mehr spalten. Die Lage der Kurden könnte noch unerträglicher werden. Ihre Menschenrechte sind eklatant verletzt worden. … Doch es ist zu erwarten, dass die Opposition in den Städten nicht tatenlos zuschauen wird, wie die Türkei in eine Alleinherrschaft schlingert.“
Nur Loser beschweren sich über Wahlbetrug
Für die regierungsnahe Tageszeitung Akşam sind die Vorwürfe von Wahlbetrug nichts anderes als von Verlierern vorgebrachte Beschwerden über Bagatellen:
„Die Durchführung von Wahlen und Referenden in der Türkei verläuft mit jedem Abstimmungsprozess immer offener, transparenter und immer mehr den Vorschriften entsprechend. Auch wenn nach den Abstimmungen einige Beschwerden aufkommen, sind dies lediglich Einzelfälle, die die Psychologie der Verlierer-Parteien oder Verlierer-Kandidaten zum Ausdruck bringen und nur kleine Probleme darstellen, die das Ergebnis nicht beeinflussen. Allein aus dieser Perspektive ist es bereits ein Erfolg, dass das Referendum vom 16. April mit einer so hohen Wahlbeteiligung von 85 Prozent nahezu ohne irgendwelche relevanten Zwischenfälle verlief.“
Opposition schwächelt selbst jetzt
Die Zurückhaltung des Vorsitzenden der sozialdemokratisch-kemalistischen CHP, Kemal Kılıçdaroğlu, angesichts des vermuteten Wahlbetrugs ist eine vertane Chance, erklärt das links-nationalistische Onlineportal OdaTV:
„Gegen Ende der schwierigen Wahlnacht, die als Kopf-an-Kopf-Rennen der Prozentpunkte voranschritt, standen plötzlich wieder Unregelmäßigkeiten beim Wahlablauf auf der Tagesordnung. Eine Protestwelle brach los. ... Als die AKP immer mehr in Bedrängnis geriet, warteten alle in großer Aufregung auf die Rede von Kılıçdaroğlu. Genau jetzt würde sich der Vorsitzende der größten Oppositionspartei vor die Fernsehsender stellen und alle zurechtweisen, eine patriotische, revolutionäre, der internationalen Rechtsordnung entsprechende Position innerhalb dieser Dunkelheit beziehen. Die gesamte Türkei saß gebannt vor dem Bildschirm. Und dann ... gebar der Berg eine Maus! ... Während sich das Nein-Lager die Haare raufte, fragte sich das Ja-Lager: 'Haben wir uns davor etwa gefürchtet?'“
Der letzte Nagel im Sarg Atatürks
Von einer demokratischen Abstimmung kann keine Rede sein, wenn in der Türkei Hunderte Journalisten und Tausende Lehrer, Staatsbeamte und Rechtsanwälte eingesperrt sind, merkt Pravda an:
„Die Opposition hatte keine gleichberechtigten Chancen, wird zudem seit langem kriminalisiert. Das heißt aber nicht, dass die Forderung der Opposition nach Neuauszählung der Stimmen sinnlos ist. ... Der letzte Nagel im Sarg Atatürks muss keine Tragödie für die Türkei bedeuten. Erdoğan Betrug nachzuweisen, könnte für die Zukunft noch Bedeutung haben. ... Derzeit kann sich jedoch niemand seinem Ansinnen entgegenstellen, den modernen türkischen Staat zu vernichten. Das knappe Ergebnis birgt zugleich ein Gefahrenmoment. Den Türken droht eine weitere Welle von Repressionen, wenn es ganz schlimm kommt ein Bürgerkrieg. Und das alles an der Grenze zu Europa und zum schon jetzt explodierenden Nahen Osten.“
Präsident muss auf Kritiker zugehen
Das Nein-Lager in der Türkei ist so groß, dass der Präsident dessen Bedenken nicht einfach ignorieren kann, mahnt The Guardian:
„Die beiden Lager betrachteten die Verfassung aus unterschiedlichen Perspektiven. Für jene, die für die Reform stimmten, standen die Misserfolge der vergangenen erstarrten Koalitionsregierungen und die Bedrohungen der nationalen Sicherheit im Vordergrund. Jene, die gegen die Reform stimmten, hatten Sorgen bezüglich der Gewaltenteilung, der wechselseitigen Kontrolle staatlicher Institutionen und der Gefährdung der Demokratie. Dieser harte Wettbewerb und das knappe Ergebnis zeigen, dass ein wesentlicher Teil der türkischen Gesellschaft um den Staat und die Zukunft der türkischen Demokratie bangt. Sozioökonomische Stabilität, Frieden und eine Normalisierung der türkischen Innenpolitik können nur dann erreicht werden, wenn sich Präsident Erdoğan um diese Bedenken kümmert.“
Erdoğans Untergang beginnt
Mit diesem Sieg hat Erdoğan gleichzeitig seinen Untergang besiegelt, glaubt Večernji list:
„Offensichtlich beschäftigt sich heute fast niemand mehr mit Geschichte, aus der wir doch immer lernen sollen. Und die Geschichte sagt: Zuerst ist das Volk vom Führer berauscht und übergibt ihm seine Freiheit und sein Leben. Aber wenn der geliebte Führer dann beginnt das Volk einzusperren, auszurauben und zu liquidieren, dann stürzt es ihn mit noch größerer Leidenschaft. Nebenher stirbt es - natürlich. In der Türkei erleben wir im Moment den ersten Teil dieses Szenarios. Erdoğan hat die Hälfte der Nation mit seiner Magie verzaubert, die aus nur zwei Worten besteht: politischer Islam.“
Nein-Lager will den Sieg stehlen
Die Feinde der Türkei bezeichnen die mehrheitliche Zustimmung der Wähler zum Präsidialsystem als Niederlage der AKP, kritisiert die regierungsnahe Tageszeitung Yeni Şafak:
„Man muss sich in Acht nehmen vor jenen, die das Ergebnis der Abstimmung so verkaufen, als hätten Erdoğan und die AKP verloren, als hätte die [nationalistische] MHP verloren. Man muss sich vor jenen in Acht nehmen, die ihre Niederlage wie einen Sieg präsentieren, indem sie sich an neue Lügen und billige Thesen klammern. Dass die Türkei, die einen so schweren Angriff wie den 15. Juli überstanden hat, ihre wichtigste Angelegenheit dermaßen problemlos lösen konnte, ist ein großer Erfolg. Denn es gibt kaum ein anderes Land, das ein derartiges Trauma hätte bewältigen und seinen Weg mit Riesenschritten weitergehen können. Lasst nicht zu, dass sie uns den Sieg stehlen!“