Evet oder Hayır - Referendum in der Türkei
In einem Referendum am 16. April entscheiden die Türken über die Einführung eines Präsidialsystems, das die Machtbefugnisse von Präsident Erdoğan ausweiten soll. Gegner und Befürworter der Verfassungsreform liegen in Umfragen gleichauf. Kommentatoren kritisieren ungleiche Wahlkampfbedingungen und finden, dass Erdoğan nur verlieren kann.
AKP missbraucht Staatsmittel für Ja-Propaganda
Der Journalist Necati Doğru beschwert sich in Sözcü über den Missbrauch staatlicher Mittel und die ungleichen Wahlkampfbedingungen zugunsten der Regierungspartei AKP:
„Öffentliche Gebäude wurden von oben bis unten mit Ja-Plakaten zugepflastert. Auf Bergpfaden, an Straßenmündungen wurden Poster in Lebensgröße jenes Staatsmannes aufgehängt, der 'zugleich Präsident und Parteichef sein will'. Gouverneure, Landräte, Bürgermeister und Imame in den Moscheen wurden mobilisiert. Sogar Schüler wurden unter dem Vorwand, man fahre sie zu einem Prüfungsvorbereitungskurs, auf Propagandaveranstaltungen für das 'Ja' mitgenommen. Der Präsident, der Premier, Minister, Berater, Parteifreunde - sie alle fliegen in Flugzeugen und Helikoptern auf Staatskosten, um Wahlkampf zu machen. ... Sie missbrauchen Beamte und Staatsmittel für ihre Propaganda, um Ja-Stimmen zu erhalten. Das Volk sieht diese Rechtsverstöße. Es sollte diesen Leuten eine Lektion erteilen.“
Warum Erdoğan schon verloren hat
Der türkische Präsident hat schon vor dem Referendum eine Niederlage erlitten, meint der rumänische Europaparlamentarier Cristian Preda im Blog Adevărul:
„Die Idee Erdoğans, mehr Macht zu gewinnen, hat in Europa niemanden überzeugt. Ein solches Präsidialsystem existiert auf dem alten Kontinent praktisch nicht und wird deshalb mit viel Argwohn beäugt. Doch geht es hier nicht nur um eine Debatte über politische Prinzipien. … Die Wahlkampagne für das Referendum hat das Misstrauen in das Erdoğan-Regime weiter verstärkt. Dieses Misstrauen entstand vor allem nach der Verhaftungswelle durch den sogenannten Sultan im Sommer 2016 und hält bis heute an. Das Resultat des Referendums ist offen. Einen Effekt hat es aber schon jetzt: Die Beziehungen zwischen der Türkei und der EU sind deutlich angespannter. In den Augen der Europäer hat Erdoğan bereits verloren.“
Türkei nimmt Spaniens alten Platz ein
Europa hatte einst engere Verbindungen zur Türkei als zu Spanien - nämlich zur Zeit des Diktators Francisco Franco (1939-1975), erinnert El País:
„Es gab eine Zeit, da schauten wir voller Hoffnung auf die Türkei. Sie war in ihrem Streben mindestens ebenso europäisch wie Spanien. Und sie war der Aufnahme in die EU näher als wir. Während die Türkei 1949 zum Gründungsmitglied der Nato wurde, musste Spanien 1953 erst ein bilaterales Sicherheitsabkommen mit den USA schließen. ... Ja, Spanien klammerte sich an den Schutz des Westens, aber ein kleinwüchsiger General mit Schnurrbart - einst ein Freund von Hitler und Mussolini - sorgte dafür, dass es den Hausherren peinlich war, ihn an der großen Tafel Platz nehmen zu lassen. ... Die Türkei scheint sich nun leider auf den Rückweg zu begeben, um den ehemaligen Platz Spaniens einzunehmen und zu einem dieser unangenehmen Partner zu werden, die eigentlich niemand am Tisch haben will, deren strategische Bedeutung alle Außenminister jedoch dazu zwingt, tief durchzuatmen, ruhig zu bleiben oder wegzuschauen.“
Ein Ja für die Stabilität
Ein Land mit starker Führung bringt Stabilität, erklärt Journalistin Nagehan Alçı und argumentiert in Milliyet für das Präsidialsystem:
„Meines Erachtens sind die Schlüsselworte Stabilität und Leistung die wesentlichen Merkmale, die die AKP grundlegend beschreiben und auf die Intention des Referendums hinweisen. Stabilität ist das Wort, das aufzeigt, welche Vorteile Phasen der Einparteienführung [zwischen 1923 und 1945] dem Land gebracht haben. So ist dieser Begriff auch für den Erfolg der AKP-Regierung unverzichtbar. Die Leistungen seit 2002 und die weitreichende Entwicklung des Landes sind der Stabilität zu verdanken. Das AKP-Lager hat diesen Begriff in den Mittelpunkt seines Wahlkampfs gestellt. ... Wir werden am Sonntag an den Urnen zwischen der Wahrung des bestehenden Systems und dem Ausbau von Sicherheit, Stabilität und Leistungen abstimmen.“
Bei Scheitern Erdoğans drohen chaotische Zeiten
Ein Sieg Erdoğans beim Referendum wäre kurzfristig das geringere Übel, glaubt Die Welt:
„Sollte Präsident Erdoğan das Referendum gewinnen und sein Land zu einem absolutistischen Präsidialsystem umbauen können, so schafft das vordergründig Stabilität. Die Folge: Erdoğan dürfte sich bald pragmatischer zeigen und die andauernde Verletzung demokratischer Grundrechte zumindest einschränken. Eine Amnestie von politisch Gefangenen ist dann durchaus realistisch. Es dürfte zu einer Entspannung zwischen der Türkei und dem Westen kommen. … Und wenn das Referendum scheitert? Dann wird der Präsident versuchen, möglichst bald Neuwahlen auszurufen - er setzt auf eine Zwei-Drittel-Mehrheit im Parlament, mit deren Hilfe sich die ersehnte Verfassungsreform doch noch durchsetzen ließe. Dies wäre ein Szenario höchster Instabilität und Unsicherheit. Es drohen chaotische Zeiten. Der Machttechnokrat Erdoğan wird dann mit aller Brutalität versuchen, die Reihen hinter sich zu schließen. Er dürfte seine Repressionspolitik gegenüber Andersdenkenden noch ausweiten.“
Marktschwankungen garantiert
Für die Zeit nach dem Referendum prognostiziert der Journalist Abdurrahman Yıldırım in der konservativen Tageszeitung Habertürk unabhängig vom Stimmergebnis erhebliche Marktschwankungen:
„Wenn die Wahlurnen ein Ja verkünden, kann das ein kurzfristiges Doping bedeuten, wenn sie ein Nein verkünden, kann das zu einem Schock führen. Beides wäre allerdings auf einen Tag beschränkt. Die Folgen werden von den Entwicklungen nach dem 16. April abhängen. Im Fall eines Ja wird die Politik Erdoğans sehr dominant werden und damit starke Turbulenzen auf den Märkten bewirken können. Nach einem Nein wird hinterfragt werden, in welche Richtung die Politik sich entwickeln und ob das zu vorgezogenen Wahlen führen wird oder nicht. In beiden Fällen könnten wir Schwankungen in einer Stärke erleben, wie wir sie vor dem Wahlgang nicht erlebt haben.“
Erdoğan spaltet türkische Gemeinschaft in Europa
Die Abstimmung der Türken in den Niederlanden über die umstrittene Verfassungsänderung in der Türkei stand unter großem Einfluss von Erdoğans Regierungspartei AKP, klagt De Volkskrant:
„Das Ja-Lager machte auch außerhalb der Türkei einen aggressiven und einschüchternden Wahlkampf. Türkische Niederländer, die nicht bedingungslos hinter Erdoğan stehen, wurden über die [türkischen staatlichen] Diyanet-Moscheen, türkische TV-Sender und soziale Netzwerke so sehr bombardiert, dass sie Angst um sich und ihre Verwandten in der Türkei haben mussten. Das Ja-Lager hat die Spaltung der türkischen Gemeinschaft in den Niederlanden verschärft. Das ist absolut nicht wünschenswert und bedauerlich. ... Leider gibt es innerhalb der türkischen Gemeinschaft kaum Toleranz für diejenigen türkischen Niederländer, die zum Nein-Lager gehören. Sie verdienen daher unsere Unterstützung und Solidarität und sogar unsere Bewunderung, wenn sie den Mut haben, sich öffentlich zu ihrer Abneigung gegen das Erdoğan-Regime zu bekennen.“
Nein zu Alleinherrschaft, Ja zu fairen Verfahren
Ein türkisches Gericht hat 21 inhaftierte Medienleute und Künstler freigelassen, doch noch am gleichen Tag wurde der Beschluss von einem anderen Gericht gekippt und der Hohe Rat der Richter und Staatsanwälte (HSYK) suspendierte die verantwortlichen Richter und den Staatsanwalt. Für den Journalisten Emin Çölaşan ist das in der kemalistischen Sözcü ein weiterer Grund, im Referendum mit Nein zu stimmen:
„Der letzte Suspendierungsbeschluss durch den HSYK ist eine Botschaft an die gesamte Justiz: 'Bedenkt die Folgen derartiger Entscheidungen!' Welches Gericht kann von nun an die Journalisten von der Cumhuriyet und andere Kollegen freisprechen? Ist so etwas noch möglich? ... Ich rate immer wieder davon ab, mit Ja zu stimmen. Wenn das Ja gewinnt, wird die Justiz, angefangen beim Verfassungsgericht, gänzlich in der Hand der Regierung sein. Jeder kann eines Tages auf ein faires Verfahren angewiesen sein. Bedenkt das.“
Wirtschafts-Boykott starten
Die Attacken des türkischen Präsidenten Erdoğan gegen EU-Länder sollen vor allem von seinem Scheitern mit der Wirtschaft im eigenen Land ablenken, meint De Morgen:
„Jedes Mittel ist gut genug, um sich selbst ins rechte Licht zu setzen: Beschimpfungen, Hetze, Drohungen, Machtmissbrauch, Provokation. Dass Deutsche und Niederländer Nazis und Faschisten sind. … Dass niederländische Blauhelmsoldaten 8.000 Muslime in Srebrenica ermordeten. ... Dass Belgien Terroristen unterstützt. ... Dass die EU undemokratisch ist. ... Wenn man sieht, dass sich dort ein Diktator entpuppt, dann muss man das anklagen. Erdoğan ist nicht reif für die Demokratie. Dagegen wirkt nur ein Mittel: Wirtschafts-Boykott. Die Niederlande könnten als einer der größten Investoren damit anfangen, alle Projekte still zu legen. Europa könnte alle Hilfen einfrieren. Putin würde dann die Sache beenden.“
Bitte Türkei-Urlaub canceln
In der aktuellen Situation sollte sich jeder sehr genau überlegen, wohin er in den Urlaub fährt, rät Die Presse:
„Vor dem Hintergrund aktueller Entwicklungen in der Türkei und in den USA muss man sich fragen, ob nicht auch die Politik bei solch einer apolitischen Entscheidung wie dem Urlaub eine Rolle spielen soll - oder vielleicht sogar muss? ... Wandel gibt es in einer Demokratie dann, wenn sich die Menschen gegen ihre politische Führung stellen. Und das passiert nur, wenn das Handeln der Staatsspitze spürbare Konsequenzen hat: Sei es durch ein Ende der Beitrittsgespräche mit der EU, ... sei es durch wirtschaftliche Maßnahmen, mit denen die EU auf Trumps Protektionismus reagieren will. Oder sei es dadurch, dass man diese Länder nicht besucht und damit einen wichtigen Wirtschaftszweig unter Druck setzt.“
Paradies der Amtsernennungen
Der Journalist Mehmet Tezkan warnt in Milliyet vor der Verfassungsänderung, da sie dem Präsidenten zu viel Macht verleihen würde:
„Das neue System läßt sich folgendermaßen zusammenfassen: Die Türkei wird eine Person wählen. Diese eine Person wird alle Minister, alle Staatssekretäre, alle Amtsräte, alle Ministerialräte, alle Botschafter, alle Konsuln, alle Gouverneure, alle Polizeipräsidenten der Städte und Bezirke, alle Stadt- und Bezirksschulräte, den Vorsitzenden des Präsidiums für Religionsangelegenheiten, alle Muftis ernennen. Es geht noch weiter: Er wird den Generalstabsschef, die Befehlshaber der Streitkräfte und der Armee einsetzen. Deshalb sage ich: Die Türkei wird das Paradies der Amtsernennungen.“