Rücktritt von Bouteflika: Aufatmen in Algerien?
Nach monatelangen Protesten hat Algeriens Langzeit-Präsident Bouteflika seinen Rücktritt erklärt. Interimspräsident wird laut Verfassung der Nationalrats-Vorsitzende Abdelkader Bensalah. Er muss innerhalb von 90 Tagen eine Neuwahl organisieren. Kommentatoren erklären, wer jetzt die Macht in den Händen hält und wie steinig der Weg zu einer echten Demokratie noch ist.
Bürger müssen sich organisieren
Vor dem algerischen Volk liegt noch ein langer Weg, prophezeit Le Monde:
„Das Ende einer Herrschaft ist durchgesetzt. Die Zukunft gilt es noch zu erfinden. Noch ist völlig unklar, wie sie aussehen wird. Die Oppositionsbewegungen, die unterdrückt, zerschlagen oder gar gekauft wurden, scheinen nicht in der Lage zu sein, die Grundlagen für einen demokratischen und transparenten Übergang zu schaffen. Die Kehrtwende der Armee und ihre Unterstützung für die Forderungen des Volks vermögen derzeit niemanden zu täuschen: Sie will ein System bewahren, in dem sie den zentralen Pfeiler darstellt, und zwar entweder als Garant für einen stabilen Übergangsprozess oder als dessen leitende Kraft. Das algerische Volk muss sich organisieren, um den eingeleiteten Neuanfang fortzusetzen und in den kommenden Monaten weiterhin seine kollektive Intelligenz beweisen.“
Tunesien zum Vorbild nehmen
Algerien muss möglichst rasch eine demokratische Präsidentschaftswahl ausrichten, meint Turun Sanomat:
„Ein Teil der Demonstranten fürchtet, dass die Armee die Stellung der alten Machthaber und die Fortsetzung der Korruption und des Nepotismus sichern könnte. Im Hinblick auf die Stabilität in Nordafrika ist es wichtig, dass in Algerien möglichst schnell eine demokratische Präsidentschaftswahl abgehalten wird. Bisher scheinen die Voraussetzungen für einen friedlichen Machtwechsel gegeben. Die Hoffnungen des Arabischen Frühlings erfüllten sich zum Teil in Tunesien. Ägypten kehrte zur Militärdiktatur zurück, in Syrien, Jemen und Libyen herrschen Krieg und Chaos. Hoffentlich nimmt sich Algerien eher Tunesien zum Vorbild.“
Vorsicht vor der Armee
Der Armeeführung kann man nicht trauen, warnt Yeni Akit:
„Die jetzige Strategie der Armee ist, Bouteflika und die Bande hinter ihm zu verurteilen und sich selbst an der Seite des Volkes zu präsentieren. Aber eigentlich steigert die Armee damit lediglich ihre Dominanz gegenüber der politischen Führung und versucht, das Volk zu täuschen. In Algerien ist das grundsätzliche Problem, dass die Armee die zivile Führung dominiert. Dadurch wird verhindert, dass der Wille des Volkes sich auf die zivile Führung überträgt. Die Führung der Armee war bis heute nie an der Seite des Volkes. Was das Volk eigentlich will, ist, dass diese Militärjunta-Regierung endet, freie und faire Wahlen abgehalten werden und dass das Volk durch seinen freien Willen die politische Führung bestimmen kann.“
Die Zeit nagt auch an Putins Stuhl
In Jeshednewnyj shurnal sieht Journalist Igor Jakowenko viele Parallelen zwischen der Situation in Algerien und der in Russland:
„Der Hauptgrund [für Bouteflikas Rücktritt] ist die Verschlechterung der sozio-ökonomischen Lage im Land. Mehr als 30 Prozent der Algerier unter 30 haben keine Arbeit. Ein Grund dafür: der gesunkene Ölpreis. Öl und Gas als Grundlagen der algerischen Wirtschaft stellen 30 Prozent des BIP. ... Korruption, fossile Brennstoffe, Unterdrückung der Zivilgesellschaft, 20 Jahre an der Macht, fünfte Amtszeit, überwältigender Zuspruch bei Wahlen, Wahlfälschungen, Heuchelei, Rückhalt durch Armee und Polizei... Irgendwie ist uns das nur allzu gut bekannt. Es gibt zwar ein paar Unterschiede: Der Rollstuhl fehlt, das Alter ist anders und das Klima viel kälter. Doch es stellt sich die Frage, welcher Faktor schneller wirkt: die Zeit oder die globale Erwärmung?“