Neue Sicherheitsarchitektur für Europa?
Nach den Anschlägen in Brüssel beraten Politiker und Sicherheitsexperten in Europa über den Umgang mit der terroristischen Bedrohung. Der Informationsaustausch zwischen den EU-Ländern muss endlich verbessert werden, fordern einige Kommentatoren. Andere fürchten, dass dann Daten in falsche Hände geraten.
Von den USA lernen
Nach den Anschlägen in Paris und Brüssel sollte Europa sich die USA zum Vorbild nehmen, fordert der Politologe Tomas Janeliūnas im konservativen Wochenmagazin Veidas:
„Nach dem 11. September haben die Amerikaner viele Entscheidungen getroffen, die ihre Geheimdienste gestärkt haben. Damals wurde ihnen klar, dass es viele Probleme gab - besonders bei der Koordination und beim Informationsaustausch. Das hat zu wichtigen Reformen im gesamten US-Sicherheitssystem geführt. Auch wenn es Proteste wegen einer möglichen Bedrohung der Menschenrechte gab, hat man viele wichtige Entscheidungen getroffen. Danach gab es keine Terroranschläge dieser Größenordnung mehr. Es gab zwar Attentate von einsamen Wölfen, die schwer oder gar nicht zu identifizieren sind. Anders ist es in Belgien. Dort sind die Terroristen Teil eines Netzwerks, dem die Geheimdienste Belgiens und Frankreichs nicht habhaft werden konnten.“
Gemeinsame Sicherheitspolitik ist Wunschdenken
Die Forderung eines europäischen Geheimdiensts nach US-Vorbild ist müßig, denn für einen solchen fehlt jede Grundlage, meint die liberale Wirtschaftszeitung Il Sole 24 Ore:
„Der Bereich Sicherheit fällt in die Zuständigkeit der einzelnen EU-Staaten und ist vom europäischen Integrationsprozess ausgeschlossen. Abhilfe kann nur eine Revision der EU-Verträge schaffen. Doch die Staaten der Union glauben, Grenzschließungen könnten das Problem lösen. Von einem europäischen Geheimdienst zu reden, ohne eine gemeinsame Außen-, Verteidigungs- und Sicherheitspolitik zu schaffen, ist reine Zeitverschwendung. Solange es diese nicht gibt, hinkt auch jeder Vergleich mit den USA. Die Parole 'Wir sind im Krieg' hilft hier nicht - denn wer ist 'wir'?“
EU-Staaten müssen juristisch kooperieren
Die EU-Staaten müssen auch juristisch zusammenarbeiten, wenn sie Terror bekämpfen wollen, meint der stellvertretende Chefredakteur von La Repubblica, Gianluca Di Feo, in der linksliberalen Tageszeitung El País:
„Es scheint so, als ob der Informationsaustausch auf der Ebene von Polizei und Justiz zwischen denjenigen Ländern besser funktioniert, die in der Vergangenheit gegen Terroristen im Inland kämpfen mussten, wie Italien, Spanien und Deutschland. ... Ansonsten hat das grenzenlose Europa die Barrieren zwischen den Gerichten aufrechterhalten. Die Unterschiede zwischen den Gesetzen machen es den Terroristen leichter. Aber um sie zu besiegen, bedarf es nicht nur des Austausches von Information. Man muss so schnell wie möglich damit beginnen, Rechtsordnung, Gesetze und das Prozedere anzugleichen. Es ist zum Beispiel dringend nötig, dass Beweise, die in einem Land der EU ermittelt wurden, in den Prozessen eines anderen Mitgliedstaats anerkannt werden, was bislang meistens nicht möglich ist.“
Fluggastdaten verhindern Terror nicht
Nach der Anschlagsserie in Brüssel haben die EU-Minister auch auf Fortschritte beim bereits vereinbarten Austausch von Fluggastdaten gedrängt. Die national-konservative Tageszeitung Neatkarīgā ist skeptisch:
„Zynisch war die Erklärung, dass Geheimdienste mit Hilfe von Fluggastdaten die Terroranschläge hätten verhindern können. Macht endlich die Augen auf! Der Terrorist aus dem arabischen Viertel in Brüssel ist mit einem Sprengstoffpaket in die U-Bahn gestiegen und hat sich dort in die Luft gesprengt. Der Massenmörder Anders Behring Breivik hat damals kein Flugticket gekauft. Er hat ein Boot genommen und auf der Insel Utøya 77 Menschen ermordet. Was nutzt es hier, wenn sämtliche Fluggastdaten an die Geheimdienste geschickt werden? Nichts. … Wenn die Geheimdienste nach jedem Terroranschlag eine großzügigere Finanzierung, mehr Recht und mehr Macht bekommen, dann kann man nicht ausschließen, dass es für sie sogar von Vorteil ist, den Terroristen zu erlauben, grausame Terroranschläge zu verüben.“
Staaten müssen sich gegen Terror vernetzen
Man muss die IS-Terrormiliz mit ihren eigenen Waffen bekämpfen, mahnt der britische Historiker Niall Ferguson in der linksliberalen Tageszeitung La Repubblica:
„Wenn der IS ein hierarchischer Staat wäre und [IS-Anführer] al-Baghdadi sein Chef, würde seine Tötung den IS sicher schwächer. Doch der IS ist ein Netzwerk und das kann man nicht enthaupten. … Doch es gibt eine Lösung. Während der entscheidenden Phase des Kampfes gegen al-Qaida im Irak, dem Vorläufer des IS, hatte General Stanley McChrystal eine Erleuchtung: Es bedarf eines Netzwerks um ein Netzwerk zu zerstören. … So überlastet und unterbemittelt Europol oder die europäische Polizei ist, so stellt sie doch zumindest den ersten Entwurf des Netzwerks dar, das wir aufbauen müssen, wenn wir wirklich eine Chance haben wollen, den IS zu besiegen. Die westlichen Geheimdienste und die Sicherheitskräfte müssen sich heute mehr in Netzwerken organisieren.“
Plan eines EU-Geheimdienstes ist naiv
So logisch die Forderung nach einer EU-weiten Bekämpfung des Terrors klingt, so unrealistisch ist sie in Wahrheit, findet der frühere Chef der tschechischen Militärspionage, Andor Šándor, in der linken Tageszeitung Právo:
„Spionagedienste werden von Staaten eingerichtet. Die EU ist kein Staat, wie auch die EU-Kommission keine Regierung ist. Was soll da gebildet werden? Gemeinsame Abhöreinrichtungen? Werden Briten oder Franzosen bereit sein, den anderen zu zeigen, was sie auf diesem Gebiet können? Unter anderem ihre Fähigkeit, sich gegenseitig auszuspionieren? Hier sind wir beim Kardinalproblem, das die Entstehung eines gemeinsamen Geheimdienstes ausschließt: dem gegenseitigen Vertrauen. Es wäre falsch zu glauben, dass dieses Vertrauen unter den Mitgliedsstaaten gleichermaßen groß ist. ... Wir sollten uns deshalb nicht der Illusion hingeben, dass wir den Bürgern eine hundertprozentige Sicherheit garantieren können.“
Flüchtlinge bringen Terror mit
Nach den jüngsten Anschlägen in Brüssel darf Europa die Terrorgefahr, die von Flüchtlingen ausgeht, nicht unterschätzen, mahnt die liberale Tageszeitung Corriere del Ticino:
„Man darf nicht außer Acht lassen, was in den letzten sechs bis sieben Monaten in den reichen westlichen Staaten geschehen ist. Eine unaufhaltsame Flüchtlingswelle hat sich über Europa ergossen und tut es noch. ... Versteckt unter den echten Flüchtlingen befinden sich selbstredend auch islamische Fundamentalisten. Sie sind bereit, gnadenlos die Befehle des Kalifats zu befolgen und Attentate zu üben verüben. ... Dies geschieht gemeinsam mit islamischen Zellen, die bereits in den Ankunftsländern präsent sind und eine starke Unterstützung von Migrantengruppen der zweiten Generation erfahren, die den Weg des Dschihad gewählt haben - nicht selten, um ihrer frustrierten Existenz am Rande der Gesellschaft, die sie aufgenommen hat, einen Sinn zu verleihen.“
Europäische Zusammenarbeit zwingend nötig
Bürokratische Hindernisse machen Europa verwundbar, kritisiert die konservative Tageszeitung Le Figaro:
„Der Verwaltungsdschungel der EU - 28 Hauptstädte mit gegensätzlichen Interessen müssen unter einen Hut gebracht werden - ist auch nicht besser gewappnet, als das Königreich Belgien mit seinen vier Regierungen. Allein in Brüssel existieren sechs verschiedene Polizeikorps. Auf einem Kontinent ohne Grenzen hat jede Sicherheitslücke eines Landes Konsequenzen. Das hat Europa, das nach sieben Jahren Wirtschaftsflaute mit der Migrationskrise ins Wanken gerät, gerade noch gefehlt. … Die Briten, die mit dem Ausstieg flirten, die Franzosen und die Deutschen, die sich von der extremen und anti-europäischen Rechten verführen lassen, haben eine klare Botschaft: Im Gegensatz zum offiziellen Credo ist die EU nicht die Lösung, sondern das Problem, behaupten sie. Um diese Tendenz nach den Attentaten umzukehren, braucht es sicher mehr als eine Dringlichkeitssitzung des Ministerrats.“
Staaten müssen Informationen teilen
Nur eine internationale Kooperation der Polizei und Geheimdienste kann effektiv gegen den globalen Terrorismus kämpfen, meint die konservative Tageszeitung La Vanguardia:
„Europa kann den Dschihadismus nicht effizient bekämpfen, wenn die verschiedenen Einheiten zur Bekämpfung kaum miteinander kommunizieren. Ganz zu schweigen vom mangelnden Informationsaustausch zwischen den Einheiten innerhalb eines Staats (die Stadt Brüssel hat zum Beispiel sechs verschiedene Orts- und eine Nationalpolizei). Das Organigramm der Sicherheit ist für einen nationalen Rahmen ausgelegt und nicht zur Bekämpfung des globalen Terrorismus. Nicht nur wegen der Zuständigkeiten, sondern auch wegen der Art und Mentalität dieser Einheiten, die dazu neigen, Informationen und Quellen für sich zu behalten. Man darf daran erinnern, dass die Attentate vom 11. September die Konkurrenz und das Misstrauen zwischen CIA und FBI ans Licht brachten.“
Heikle Daten könnten in falsche Hände geraten
Bundesinnenminister Thomas de Maizière hat erneut einen besseren Datenaustausch in Europa gefordert. Sicherheit sei nun wichtiger als der Schutz der Daten. Diese könnten aber in die falschen Hände geraten, fürchtet die linksliberale Süddeutsche Zeitung:
„Die EU-Staaten, die gut funktionierende Sicherheitsbehörden haben, sind nicht bereit, ihre heiklen und werthaltigen Daten in einen 28er-Topf zu werfen, wenn und solange sie befürchten müssen, dass mit diesen Informationen da oder dort Schindluder getrieben wird. Beim gegenwärtigen Zustand der Sicherheitsbürokratie in diversen EU-Staaten kann derzeit nicht ausgeschlossen werden, dass heikelste Daten bei der organisierten Kriminalität landen. Solange das so ist, ist ein gemeinsames Terrorabwehrzentrum aller 28 EU-Staaten Illusion. ... Wenn man sehr schnell etwas Sinnvolles tun will, könnten willige und fähige Staaten Kerneuropas ein gemeinsames kleines, effektives Terrorabwehrzentrum mit intensivem Datenaustausch gründen.“
Haben Belgiens Behörden versagt?
Nach Angaben des türkischen Präsidenten Erdoğan wurde einer der Attentäter in der Türkei wegen Verbindungen zur Islamistenszene im Juli 2015 nach Belgien ausgewiesen. Dass der in Europa frei kam, gibt der liberalen Tageszeitung De Standaard zu denken:
„Nach den Anschlägen von Paris gerieten die beiden Brüder El Bakraoui bereits ins Blickfeld. Wurde damals nicht bereits deutlich, dass der eine, Ibrahim, einige Monate zuvor der belgischen Justiz auf dem Präsentierteller angeboten worden war? Hat da niemand kombiniert oder blieb jemand auf der Information sitzen? Man darf diese Fragen nicht ignorieren. ... Mehr als 30 Menschen sind umgekommen, mehr als 200 wurden verletzt. Das Ausland schaut mit Unverständnis und wachsendem Ärger zu. Wie sollen wir erklären, dass unser System funktioniert hat, wenn es so viele Anzeichen gibt, die etwas anderes zeigen? Was ist, wenn nicht mehr zu leugnen ist, dass Belgien als Staat versagt hat? Wer übernimmt dann dafür die Verantwortung?“
Sicherheitsmaßnahmen allein nicht ausreichend
Dauerhafte Erfolge im Kampf gegen den Terrorismus garantieren nur langfristig ausgerichtete Maßnahmen und Strategien, konstatiert die Wirtschaftszeitung Kauppalehti:
„Es ist eindeutig, dass der Terrorismus in Europa nicht allein durch gemeinsame Sicherheitsmaßnahmen beseitigt werden kann. Man muss die eigentlichen Gründe des Terrorismus beseitigen, von denen der Syrien-Krieg der derzeit akuteste ist. Dann muss man sich um die Integration der nach Europa gekommenen Einwanderer in die Gesellschaft kümmern, denn in den armen Vierteln der Großstädte keimt der Samen für eine Radikalisierung der Einwanderer. Sicherheitsmaßnahmen sind ein erster Schritt. Doch der Terrorismus muss an der Wurzel angegangen werden, damit er nicht dauerhaft die europäische Lebensweise und europäische Werte und die offene Gesellschaft erschüttert.“
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