Woher rührt der Zorn der Gelbwesten?
Nach den Gewaltexzessen während der Proteste der Gelbwesten am Wochenende, rudert Frankreichs Präsident Macron offenbar zurück. Aus Regierungskreisen verlautete, dass die zum 1. Januar geplante Erhöhung der Ökosteuer auf Diesel und Benzin ausgesetzt werden soll. Journalisten versuchen zu ergründen, was die Wut der Bürger dermaßen befeuert hat.
Der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte
Handfeste Gründe für die Proteste macht Kommunikationswissenschaftler Nikos Smyrnaios von der Universität Toulouse in seinem Blog ephemeron.eu aus:
„Die stark gestiegenen Wohnkosten drängen immer mehr im Niedriglohnsektor Beschäftigte aus den urbanen Zentren. Das führt dazu, dass sie vom Auto abhängig sind. ... Dieser Trend wird durch fehlende Investitionen in den öffentlichen Verkehr und die schrittweise Privatisierung des Schienennetzes noch verstärkt. So war die neue Dieselsteuer der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. ... Während der Präsidentschaft Macrons hat sich die Diskrimierung der unteren Klassen verschärft: Steuersenkungen für die reichsten Unternehmen, Kürzungen der öffentlichen Ausgaben mit negativen Folgen für den Sozialstaat und die öffentlichen Dienstleistungen, sowie mehr indirekte und unfaire Besteuerung.“
Politik braucht Leidenschaft
Die Gelbwesten sind vor allem wegen Macrons Politikstil aufgebracht, meint Le Point:
„Emmanuel Macron hat geglaubt, er könne Politik betreiben und dabei auf einen ihrer wesentlichen Bestandteile verzichten: das Ansprechen von Gefühlen. Er ist davon ausgegangen, dass Leidenschaft in der Politik zwangsläufig schädlich ist, dass sie die Sicht verstellt, das klare Denken verhindert und dass sie die Tendenz hat, den Graben zwischen rechts und links zu vertiefen, den er für künstlich hält. ... Der Präsident hat vergessen - oder ignoriert -, dass Politik viel mit Sensorik zu tun hat. Sie fängt damit an, dass man den Leuten in die Augen schaut. ... Auch dafür bezahlt er heute.“
Es geht doch nur um den Dieselpreis
Polityka findet es bemerkenswert, dass die Franzosen nichts anderes als ihren eigenen Geldbeutel schützen wollen:
„Im Gegensatz zu den Polen müssen die Franzosen nicht für die Unabhängigkeit der Justiz oder der Verfassung demonstrieren. ... Die gewalttätigen Proteste in Frankreich könnten noch lange andauern. Die Regierung wird entweder auf die Steuererhöhungen verzichten oder - wie nach den Terroranschlägen - den Ausnahmezustand einführen. Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass ein Protest zur Verteidigung der Demokratie etwas anderes ist als ein Protest zur Verteidigung des Dieselölpreises.“
Frankreichs Opposition ist die Straße
Der Wahlerfolg von La République en Marche, die vor anderthalb Jahren die absolute Mehrheit in der Nationalversammlung erreichte, kommt den Präsidenten nun teuer zu stehen, kommentiert Sega:
„Macron bekam ein Parlament ohne echte Opposition. Die einzige Chance der parteilos gewordenen Opposition ist nun, sich auf der Straße bemerkbar zu machen. Ihre Forderungen haben es in sich: die Einrichtung einer 'Bürgerversammlung' anstelle der Nationalversammlung, die Abschaffung des Senats, regelmäßige Referenden und Steuersenkungen. Zudem sollen Privilegien der Eliten abgeschafft werden. Von welchen Privilegien ist die Rede? Wurden diese nicht schon während der Französischen Revolution abgeschafft?“
Man muss die Gewalt verdammen
Entsetzt über den Ausbruch der Gewalt ist Les Echos:
„Ab jetzt ist nicht viel weniger als unsere Demokratie bedroht. Deshalb ist angesichts des schrecklichen Chaos, das die Bewegung der 'Gelbwesten' am Samstag im Herzen der Hauptstadt und in einigen Städten in der Provinz angerichtet hat, nun jeder verpflichtet, sich eindeutig zu positionieren: Steht er auf der Seite der legitimen Ordnung einer Republik? Oder auf der des Aufstands gegen die Demokratie? Wenn Orte der Macht, der Geschichte und des Gedenkens angegriffen werden, wie es der Fall war, wenn das Recht auf Eigentum verletzt wird, ehrliche Ladenbesitzer bestohlen werden und Polizeibeamte drangsaliert werden, dann muss man nicht länger den Staatschef verteidigen, sondern den Staat selbst.“
Sie können randalieren, aber nicht reden
Der französischen Regierung fehlt in der Protestbewegung der Ansprechpartner, konstatiert Alexej Tarchanow, Frankreich-Korrespondent von Kommersant:
„Der friedliche Protest wird immer aktiver von Radikalen des linken und rechten Lagers, der Vorstadtjugend und echten Kriminellen monopolisiert. ... Die der Bewegung fehlende Homogenität macht sie noch unvorhersehbarer und anarchischer. Nach Meinung Pariser Beobachter haben die unpopulären Reformen die Mittelschicht, die bislang das Gegengewicht zu den Radikalen bildete, gegen die Regierung aufgebracht. Die Radikalen wiederum handeln nach dem Prinzip 'je schlimmer, desto besser'. Das Hauptproblem bleibt der fehlende Dialog: Die Gelbwesten werden in die Nationalversammlung und zu einem Treffen mit dem Premier eingeladen. Aber bislang reagieren sie nicht darauf.“
Destruktive Kraft ohne Richtung
Die Gelbwesten vereinen politisch entwurzelte Demonstranten von links und rechts, vereint durch den Wunsch, die bestehenden Verhältnisse zu zerstören, analysiert der Tages-Anzeiger:
„Die Bewegung der Westenträger spiegelt wie eine verzerrte Fratze die versöhnenden Gesten Macrons. Ich bin weder links noch rechts, sagt der Präsident. Wir auch nicht, brüllt die Strasse zurück. Macron inszeniert sich in seiner Abkehr von den politischen Lagern als pragmatischer Modernisierer. Die Menschen an Strassensperren und Barrikaden haben wie ihr Präsident das Vertrauen in die Volksparteien verloren. Doch in ihrer Enttäuschung wenden sie sich nicht Macron zu - sie wehren alles ab, was nach übergeordneter Autorität klingt. Übrig bleibt eine destruktive Kraft, ohne klare Richtung.“
Aufstand gegen Missverhältnisse in ganz Europa
Der Standard sieht die Ursachen der Proteste bei weitem nicht nur in Frankreich angesiedelt:
„Die Gelbwesten sind nicht nur eine Reaktion auf französische Verhältnisse, sondern auf einen sozialpolitischen Missstand in ganz Europa, im ganzen Westen. Hört man genau hin, beklagen sich die Gelbwesten sowohl über die exorbitanten Saläre der Topmanager als auch über den Umstand, dass sie trotz harter Arbeit kaum mehr verdienen als Sozialhilfebezieher. Wie schwer es ist, in den komplexen und globalisierten Gesellschaften Antworten zu finden, zeigt Macrons Absturz in den Umfragen. Wie weiter? Beide Seiten bleiben vorerst unbeugsam. Selbst wenn Macron den Gelbwesten-Protest auszusitzen vermag, wird ihn dieser politisch weiter schwächen. Es ist nicht sicher, ob er das Land dann wirklich noch reformieren kann.“
Pro-Europäer verlieren ihren Kämpfer
Dass nicht nur die Wut der Straße Macron in Bedrängnis bringt, beschreibt der Paris-Korrespondent von La Repubblica, Bernardo Valli:
„Trotz ihrer Bemühungen, sich der Protestbewegung anzuschließen, wurden die Oppositionsparteien bisher im Abseits gehalten. Die Gelben Westen wollen nicht, dass sie ihre Verbündeten sind. Sie haben keine Parteivertreter in ihre Reihen aufgenommen. Aber die extreme Rechte, Rassemblement National (ehemals Front National), und die extreme Linke, La France insoumise, streben ein Misstrauensvotum gegen die Regierung, die Nationalversammlung an. Sie stellen die Präsidentschaft der Republik selbst in Frage. Die französische Krise schwächt Emmanuel Macron als Vorkämpfer der Europäer bei den Frühjahrswahlen zur Erneuerung des Straßburger Parlaments. “