Muss die EU London entgegenkommen?
Nach dem überstandenen Misstrauensvotum hat sich Theresa May mit Oppositionsparteien getroffen, um einen Plan B zu ihrem Brexit-Deal auszuarbeiten. Die EU signalisierte Verhandlungsbereitschaft, sollte London von "roten Linien" abrücken, insbesondere beim Thema Arbeitnehmerfreizügigkeit. Allzu viele Zugeständnisse sollte sie jedoch nicht machen, mahnen Kommentatoren.
Dieses Großbritannien wollen wir nicht
Die EU sollte sich hüten, den Briten nach einem erneuten Referendum zu ermöglichen, doch in der Union zu bleiben, mahnt Jutarnji list:
„Das Vereinte Königreich bliebe auch im Falle eines neuen Referendums und eines Verbleibs in der EU gespalten. Und solch ein gespaltenes Vereinigtes Königreich ist das Letzte, was die EU jetzt braucht, wenn sie innerlich erstarken will. Deshalb wäre ein eventueller Rückzug Großbritanniens vom Brexit, der rechtlich möglich wäre, schlimmer für die Europäische Union als ein harter Brexit. ... Ein Kompromiss, um das Schlimmste zu verhindern, ist immer noch denkbar. Aber Großbritannien muss klar sagen, was es möchte.“
Bitte bis Mai die EU verlassen
Mit Blick auf das erwartete starke Abschneiden der europakritischen Kräfte in der EU-Wahl warnt Kauppalehti vor einer Verschiebung des britischen Austritts:
„Der Brexit, für dessen Umsetzung es noch immer keine Garantie gibt, erhöht die Spannung. … Wenn der EU-Austritt nicht bis Ende Mai vollzogen ist, nimmt Großbritannien wie die übrigen Länder an der EU-Wahl teil. Dies könnte den EU-kritischen Flügel im Parlament stärken. Nach der EU-Wahl dürften die Verhandlungen über den künftigen EU-Haushaltsrahmen dann enorm schwierig und die Besetzung der EU-Spitzenämter kann völlig unmöglich werden.“
EU muss schauen, wo sie bleibt
Die EU liegt falsch, wenn sie denkt, dass sie London nun weitgehende Zugeständnisse machen muss, warnt NRC Handelsblad:
„Während sich die Briten noch immer nicht entscheiden können, was für eine Beziehung sie zur EU haben wollen, haben sich die Interessen der EU nicht verändert. Ihr ist noch immer gelegen an einem möglichst engen Band zu Großbritannien, sowohl wirtschaftlich als auch politisch. Auf der anderen Seite wird Großbritannien in Kürze eine Nation, die bei aller Freundschaft doch auch mit der EU konkurriert. Daher gibt es keinerlei Grund, Zugeständnisse zu machen, die die Grundlage der Union berühren, indem man Großbritannien Vorteile gewährt, die für andere Mitgliedsstaaten unerreichbar sind. Daran ändern auch die historischen Abende in London nichts.“
Nicht mit in den Abgrund ziehen lassen
Die irische Regierung sollte sich jetzt voll darauf konzentrieren, die Folgen eines möglichen ungeregelten harten Brexit für das eigene Land abzuschwächen, appelliert The Irish Independent:
„Dublin sollte die richtigen Schlüsse aus dem Chaos in Großbritannien ziehen und die Vorbereitungen für einen No-Deal-Brexit intensivieren. Nur so kann sichergestellt werden, dass die Kollateralschäden in diesem Land möglichst gering ausfallen. Es besteht die Gefahr, dass die irische Regierung so sehr konzentriert war auf die Verhandlungen und die Versuche, eine Brexit-Katastrophe zu verhindern, dass sie jetzt bedauerlicherweise nur schlecht auf deren Folgen vorbereitet ist. ... Führende Mitglieder der britischen Regierung mögen kein Problem damit haben, ihr Land zu opfern, um ihren Brexit-Traum zu verwirklichen. Doch wir können es ihnen nicht erlauben, uns mit den Abgrund zu ziehen.“
Jetzt sind Rumänien und Polen am Zug
Wer kann nun an Londons Stelle das Gegengewicht zum deutsch-französischen Tandem in der EU bilden, fragt sich Iulian Chifu in seinem Blog bei Adevărul:
„Spanien hat, verglichen mit Großbritannien, nicht das strategische Schwergewicht, während Italien die europäische Identität fehlt, aber auch die Wirtschaftskraft und das Gleichgewicht. Rumänien und Polen könnten gemeinsam die ausgleichende Rolle Großbritanniens einnehmen. Beide Länder haben genügend Distanz zu Russland, um einer Annäherung und unangemessenen Öffnung des europäischen Westens gegenüber Moskau entgegenzuwirken. Und sie haben auch gemeinsam eine strategische und enge Bindung zu den USA, und den Wunsch, die USA weiter in die Sicherheit Europas einzubinden, so dass sie Großbritannien ersetzen könnten.“
Der 29. März ist nicht machbar
Ein geordneter EU-Austritt Großbritanniens am 29. März wird jetzt nicht mehr möglich sein, warnt Kolumnist Robert Peston in The Spectator:
„Nach diesem dramatischen Scheitern mit 432 zu 202 Stimmen im Unterhaus, der schlimmsten Abstimmungsniederlage einer Regierung seit mehr als hundert Jahren, ist der Brexit-Deal der Regierungschefin endgültig vom Tisch. ... Wir haben politisches Neuland betreten. Genau davor hatte Theresa May vor wenigen Tagen gewarnt. Angesichts der Unsicherheiten und der gewaltigen Herausforderungen, die nun in den Verhandlungen und in der Gesetzgebung vor uns liegen, ist es beinahe unvorstellbar, dass Großbritannien die EU wie geplant am 29. März verlassen können wird. Die Frage scheint nur, ob der Aufschub zeitlich begrenzt oder dauerhaft sein wird.“
Freundschaftliche Scheidung anstreben
Das schallende Nein des Unterhauses kann zu einer weniger konflikthaften Trennung von der EU führen, hofft Expressen:
„Natürlich besteht weiterhin das Risiko, dass Großbritannien am 29. März die EU ohne Abkommen verlässt, mit allen Konsequenzen von Warenknappheit bis hin zur Wiedereinführung der Grenzkontrollen in Irland. Aber diese Gefahr ist geringer geworden, nachdem das Parlament begonnen hat, die Kontrolle über den Brexit-Prozess zu übernehmen. Nur wenige Parlamentarier wollen die EU mit einem Crash verlassen. ... Gleichzeitig sind die Chancen gestiegen, dass Großbritannien in der Zukunft eine engere Beziehung zur EU erlangt, beispielsweise durch den Verbleib in der Zollunion. ... Es wäre gut, wenn Großbritannien nun als nächsten Schritt eine engere Beziehung zur EU anpeilen würde. Wenn die Briten wieder verhandeln wollen, sollte die EU mit offenen Armen auf sie zugehen.“
May bleibt nur Rücktritt oder Kehrtwende
Der Standard sieht nur zwei Möglichkeiten für Theresa May:
„Anstatt nach dem Brexit-Referendum im Sommer 2016 - spätestens aber nach der Wahl 2017 - auf die Oppositionsparteien und andere gesellschaftliche Gruppen zuzugehen, hat May stur an ihrem ursprünglichen Plan für einen harten Brexit festgehalten. ... Nach der brutalen Abfuhr für ihr Austrittspaket muss sie endlich das Wohl des Landes voranstellen - oder den Weg für jemanden wie beispielsweise ihren Vizepremier David Lidington freimachen, der eine überparteiliche Lösung in die Wege leiten kann. Diese liegt auf der Hand: Großbritannien bleibt in der Zollunion, Nordirland erhält zusätzlich begrenzten Zugang zum Binnenmarkt, wie in der Auffanglösung vorgesehen. Dafür gäbe es eine Mehrheit - anders als für Mays traurige Bemühungen.“
Vermutlich denkt die Mehrheit jetzt anders
Nun wird es Zeit, dem Volk erneut das Wort zu geben, fordert De Morgen:
„Die britische Bevölkerung muss erneut wählen können, welche Führer diesen gordischen Knoten lösen sollen. Dann sollten sie sich auch in einer Volksabstimmung äußern dürfen, ob sie den Brexit weiter wollen oder zurückdrehen. ... Es ist eine demokratische Pflicht, das Votum der kleinen Mehrheit der Leave-Wähler zu respektieren. Aber angesichts all der negativen Folgen, die während des Brexit-Verfahrens deutlich wurden, ist es legitim zu prüfen, ob tatsächlich alle noch immer so darüber denken.“
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