Europa im Jahr 2019: Wer wird triumphieren?
Dass die Wahl im Mai für Europa zu einer Schicksalswahl werden dürfte, glauben Kommentatoren schon seit geraumer Zeit - nicht zuletzt, weil Rechtspopulisten Allianzen schmieden und sich der rechtsradikale Steve Bannon mit seinem The Movement einmischt. Kommentatoren beschäftigen die Ursachen und die Erfolgschancen der Populisten.
Dumpfe Masse ist Konstrukt konservativer Eliten
Für den Historiker Iwan Kurilla ist der wachsende Populismus keine von unten kommende Bewegung, sondern die Waffe einflussreicher Kreise im politischen Machtkampf. Dies beschreibt er in Republic:
„Wir sehen eine recht einfache aber sehr effektive Manipulation. Politische Eliten formieren die 'unwissende Mehrheit' und nutzen diese dann, um den gebildeten Teil der Bevölkerung zu verunsichern. ... Die Konfrontation zwischen der 'gebildeten Klasse' und der 'unwissenden Mehrheit' ist nicht naturgegeben, sie ist ein Produkt politischer Konstruktionen. ... In den USA benutzt ein Teil des republikanischen Establishments Trump als Rammbock gegen die in den Universitäten und Zeitungsredaktionen verwurzelte demokratische Elite und nutzt dabei den Anti-Intellektualismus als ein Synonym für eine Koalition gegen die Demokratische Partei.“
Populisten müssen ihre Europa-Vision erklären
Italiens Innenminister Salvini und sein polnischer Amtskollege Brudziński haben einen "europäischen Frühling" und eine italienisch-polnische Achse angekündigt, die die deutsch-französische Dominanz in der EU brechen werde. Sie müssen deutlicher sagen, was sie wollen, meint Kommentator Cristian Unteanu in seinem Blog bei Adevărul:
„Die neue Achse provoziert bereits massives Entsetzen. Wird sie wirkliche Veränderung bringen oder dasselbe schmerzliche und gefährlich misslungene Schicksal des 'Arabischen Frühlings' erleiden? ... Oder wird sie einfach nur verpuffen, wie so viele Achsen zuvor? Ich glaube nicht. Denn hier wurde etwas Fundiertes versprochen, das einen Teil der europäischen Wählerschaft betrifft, der orientierungslos ist, enttäuscht und der etwas Neues sucht. ... Doch zunächst muss die symbolische neue Achse etwas präsentieren, deutlich sagen, welches andere Europa sie will.“
Putin und Bannon warten wie die Aasgeier
Die Wahl im Mai wird für Europa wegweisend sein, sorgt sich Pravda:
„Vorbei die Zeiten, als sich im EU-Parlament nur Konservative und Sozialisten stritten und sich am Ende immer auf eine Form der Kohabitation einigten. Dieser Modus vivendi dürfte in seinen Grundfesten erschüttert werden. Die verschiedenen Nationalisten wollen endlich eine einheitliche Fraktion bilden. Auch wenn Migration nicht mehr gleichermaßen ein Problem wie 2015 ist, versuchen sie, mit der Angst der Menschen zu spielen. ... Kein Blatt vor den Mund nimmt etwa der frühere Chefstratege Trumps, Steve Bannon, der die Vereinigung der Populisten anstrebt, um 'das christliche weiße Europa zu verteidigen'. Er hat dasselbe Ziel wie Putin: Europa zu spalten und zu schwächen, damit es danach zu einer leichten Beute wird.“
Die Zerstörer Europas schauen feixend zu
Rechte wie linke Populisten kämpfen inzwischen Seite an Seite gegen die pro-europäische politische Mitte, warnt der Kurier:
„Bestürzend ist, dass die linke und die rechte Politik in Frankreich, die Mélenchons und die Le Pens, den Gelbwestenprotest anstacheln. Dass die italienische Regierung (!) die Gelbwesten aufruft, 'standhaft' zu bleiben … gegen einen Präsidenten, der 'gegen sein Volk' agiere ... Da wird erste Reihe fußfrei und feixend auf die Schenkel klopfend zugesehen, wie’s brennt. Und hineingeblasen. Von jenem Salvini, der [Mittwoch] in Polen war, um die Koalition der EU-Zerstörer zu erweitern. Den Zerstörern geht es um das Schüren von (Verlust-) Ängsten und scheinbar simple Antworten, wie: Das Establishment muss weg. Sätze wie der des Emmanuel Macron und die Wahrheit, dass Politik manchmal unpopuläre Entscheidungen treffen muss, haben da nur wenig Chance.“
Die Linken schlafen nicht
Eine Trendwende will Journalist Gideon Rachman in The Irish Times erkennen:
„Das Rennen um den nächsten US-Präsidentschaftskandidaten der Demokraten hat bereits begonnen. Es besteht der Eindruck, dass der 'progressive' Flügel der Partei derzeit der lebendigste ist. Zu diesem zählen Elizabeth Warren, Bernie Sanders und Alexandria Ocasio-Cortez. Das sind Politiker, die die Reichen und Privilegierten in einer Art und Weise attackieren, die in der Politik der Mitte in den USA zuvor tabu war. In Großbritannien könnte die Ernüchterung nach dem Brexit Labour-Chef Jeremy Corbyn die Gelegenheit bieten, nächster Regierungschef zu werden. Ein Wahlsieg Corbyns in Großbritannien würde Linkspopulisten überall in der Welt inspirieren - so wie der Brexit Rechtspopulisten, darunter die Trump-Bewegung, fest daran glauben ließ, dass die Geschichte in ihre Richtung gehe.“
Falsches Credo der Elite
Der Erfolg des Populismus ist der Elite anzulasten, urteilt Historiker Ernesto Galli della Loggia in Corriere della Sera:
„Wenn die nationalistische Identitätswelle in Europa wächst, geschieht dies in großem Maße aus einem offensichtlichen und oft ignorierten Grund: dem Versagen der traditionellen Eliten des Kontinents. Dieses Versagen ist in erster Linie ein ideologisch-kulturelles Versagen. ... Es ist vor allem auf die Identifikation mit der Globalisierung und ihrer Ideologie zurückzuführen, die in den 1980er und 1990er Jahren zum wichtigsten und fast einzigen Bezugspunkt der westlichen Eliten wurde. … Diese Hinwendung zum Credo der Globalisierung erfolgte, weil man die drei Säulen, auf denen der Westen in der Nachkriegszeit seinen politischen Wiederaufbau verwirklicht hatte, in einer unlösbaren Krise sah: Das Christentum, den Wohlfahrtsstaat und den Nationalstaat.“
Mit unabhängiger Liste gegen Rechtsextreme
Auch Muslime müssen die Europawahl 2019 als Prüfstein für die Demokratie begreifen, mahnt der Ex-SPD-Politiker und jetzige AKP-Berater Ozan Ceyhun in Daily Sabah und hofft auf das Instrument der unabhängigen Liste:
„Leider gibt es keine muslimischen Kandidaten für das Europäische Parlament, mit Ausnahme aus den Niederlanden. ... Doch immerhin kann es in Deutschland eine unabhängige Liste geben, bestehend aus Personen mit Verantwortung und Bewusstsein für Demokratie. Dies war in der Vergangenheit nicht oft der Fall und so könnte diese Liste muslimische Wähler dazu bringen, zur Wahlurne zu gehen und möglicherweise eine Partei wie die NPD daran hindern, einen Parlamentssitz zu gewinnen. Warum nicht? Bei den Wahlen zum europäischen Parlament 2019 können wir Demokratie fordern und uns zumindest dem Aufstieg der extremen Rechten und Rassisten entgegenstellen.“
Nur Macron kann Europa verteidigen
Zur Europawahl braucht es starke Leitfiguren, fordert der Autor Adam Szostkiewicz auf seinem Blog bei Polityka:
„Pro-europäische Parteien sollten Spitzenkandidaten wählen, die sich der Bedeutung dieser Wahlen bewusst sind. Sie müssen in der Lage sein, die Parolen der Nationalisten zu entlarven und sich gegen sie zu stellen. Darin ist der französische Präsident gut. Zum 100. Jahrestag des Endes des Ersten Weltkriegs besuchte er Orte der Schlachten, die Hunderttausende das Leben kosteten. ... Er nannte die Dinge beim Namen: Die Lepra des Nationalismus und die Wirkung äußerer Kräfte bedrohen den Frieden in Europa. Nach Merkels Abschied wird allein Macron der Sprecher und Verteidiger Europas sein.“
Macron sollte keine Gräben aufreißen
Macrons moralisierender Wahlkampf führt zu einer weiteren Polarisierung Europas, warnt der Jurist Philippe Bilger in Contrepoints:
„Mir scheint, dass die ethische Alternative, - ich bin moralisch und die anderen sind es nicht - die der Präsident in Sachen Europapolitik aufmacht, gefährlich ist. Denn bei den Wahlen im Mai 2019 könnte sein Lager gut möglich als Verlierer hervorgehen und damit einen radikalen Umschwung verursachen: Man hätte mit voller Absicht einen Graben aufgerissen zwischen den Vertretern eines humanistischen Europa und denen eines realistischen Europa - zwischen zwei Weltanschauungen. ... Ein Scheitern des Lagers, das als großzügig dargestellt wird, hätte schlimme Konsequenzen. Denn dann hätte man es geschafft, uns weiszumachen, dass das Gute ein Triumph des authentischen Europas ist, und das Böse notwendigerweise sein Ende darstellt.“
Europa ist eine Idee, die zum Gefühl werden muss
Der Rockstar Bono schwenkt auf Konzerten seiner Band U2 die Europa-Flagge. In La Repubblica fasst er sein Credo so zusammen:
„Nationalisten sagen, dass Diversität eine Gefahr sei. Sucht Zuflucht in Gleichheit, sagen sie uns; treibt die Unterschiede aus. Ihre Vision für die Zukunft sieht für mich stark nach der Vergangenheit aus. ... Ich liebe unsere Unterschiede: unsere Dialekte, unsere Traditionen, unsere Besonderheiten. ... Ich glaube, sie bieten Raum für das, was Churchill einen 'erweiterten Patriotismus' nannte: mehrere Zugehörigkeiten, sich überlagernde Identitäten, irisch und europäisch zu sein, italienisch und europäisch - nicht Entweder-Oder. ... Wirkliche Patrioten streben nach Einheit, nicht nach Homogenität. Dies wieder zu bekräftigen, ist für mich das eigentliche Projekt Europa. ... Um in diesen schwierigen Zeiten zu bestehen, muss Europa von einem Gedanken zu einem Gefühl werden.“
Macrons Anti-Orbán-Strategie ist gefährlich
Dass Emmanuel Macron sich im Europa-Wahlkampf als Gegenspieler Viktor Orbáns inszeniert, ist ein schwerer Fehler, mahnt Aymeric Chauprade, EP-Abgeordneter und früherer Berater von Marine Le Pen, in Causeur:
„Wenn die Europäische Union weiterhin kein offenes Ohr für die mitteleuropäischen Regierungen hat, die nicht nur die Sprecher ihrer Völker sind, sondern immer mehr auch die Sprecher der öffentlichen Meinung von ganz Europa, dann wird in einigen Jahren nichts mehr von ihr übrig sein. Es gibt aber noch einen zweiten Grund, warum Emmanuel Macron gut beraten wäre, nicht mit dem Feuer des Ostens zu spielen: Das Verteufeln der mitteleuropäischen Regierungen führt allein dazu, dass (im Fall Polens und der slawischen Länder) der Atlantizismus und (im Fall Ungarns) die Hinwendung zu Russland verstärkt wird.“
Neugründung oder Untergang
Guy Verhofstadt, früherer belgischer Premier und derzeitiger liberaler EU-Abgeordnete, fordert in L'Opinion die Neugründung der EU:
„Diese verheerende Phase der europäischen Integrationsgeschichte lässt unsere Mitbürger aufhorchen. Wir dürfen nicht zulassen, dass die idiotischen Slogans der Populisten die einzige Antwort darauf bleiben. Ebenso wenig dürfen wir der apathischen Leier der Konservativen folgen, deren Zaudern uns in einem tödlichen Status Quo gefangen halten würde. Die Stunde der Wahrheit ist gekommen: Entweder Europa wird neugegründet oder es zerfällt. Die Politik der kleinen Schritte ist nicht länger hinnehmbar. Die pro-europäischen Kräfte müssen sich vereinen, um eine neue und eroberungslustige Alternative anzubieten, damit ein Europa entsteht, das keiner mehr verlassen will.“
Größter Feind der EU sitzt im Parlament
Jyllands-Posten empört sich über die Bezahlung der EU-Parlamentarier:
„Laut der EP-Website beträgt die Diät 770.000 Kronen [103.000 Euro]. Reisen und Sitzungen werden gegen Rechnung erstattet. Dazu kommen 2.280 Kronen [306 Euro] als Tagegeld. Und dann die famosen 33.000 Kronen [4.435 Euro] pro Monat als steuerfreies Bürogeld. Keiner kann ernsthaft bezweifeln, dass das Einkommen anständig sein soll, nicht zuletzt, weil man viele Tage von Zuhause weg ist. ... Aber mittlerweile ist auch klar, dass die 751 Parlamentarier nicht begriffen haben, dass ihr persönlicher Umgang mit dem Geld der Steuerzahler ein destruktiver Faktor für die EU ist. ... Die EU hat viele Feinde, aber der größte ist das Europäische Parlament.“
Europa kämpft mit Rechtsruck
Nur Blinde können ignorieren, dass die EU nach rechts abdriftet, beschreibt Dennik N die Lage mit Blick auf die Europawahl und verweist auf einen Bericht der niederländischen EU-Abgeordneten Judith Sargentini:
„Die Hoffnung, dass die rechten Extremisten an den Rand der Gesellschaft gedrängt und sich dort leise 'auflösen' würden, hat sich nicht erfüllt. Stattdessen ist das Niveau von Solidarität und Toleranz gesunken. Es wird das Vokabular der Rechten übernommen, um ihnen angeblich den Wind aus den Segeln zu nehmen. Vor diesem Hintergrund ist die Zustimmung des EU-Parlaments zum Bericht von Frau Sargentini so wichtig. Er sagt klar, dass die Gefahr für Europa nicht nur von Trump und Putin ausgeht, sondern auch von Orbán und Co., die als Europa-Skeptiker angesehen werden, im Kern aber extremistisch und antidemokratisch sind.“