Unterhaus vs. Johnson: Ist das Parlament im Recht?
Vor seiner von Premier Johnson verordneten Zwangspause hat das britische Unterhaus dessen Antrag für Neuwahlen erneut abgelehnt. Damit sind diese bis Ende Oktober vom Tisch. Johnson hält am Brexit-Termin 31. Oktober fest, das Unterhaus allerdings hat auch ein Gesetz gegen einen No-Deal-Brexit beschlossen. Beobachter nehmen das Kräftemessen in Großbritannien ganz unterschiedlich wahr.
Parlament muss die Demokratie verteidigen
Nach den zwei wichtigen Beschlüssen gegen Premier Johnson darf das britische Parlament jetzt nicht nachlassen, drängt die Neue Zürcher Zeitung:
„Um für den dritten Schritt gerüstet zu sein, müssen alle oppositionellen Kräfte die Parlamentspause nutzen, um sich auf eine gemeinsame Verteidigungslinie zu einigen. Sie müssen rechtzeitig eine mögliche Übergangsregierung vorsehen, die das Regime Johnsons ablösen kann, sollte dieser sich im Oktober tatsächlich gegen das Gesetz stellen. Diese Übergangsregierung müsste dann die vom Parlament gewünschte Verschiebung des Austrittstermins durchsetzen und danach rasch Neuwahlen ansetzen. Nur so kann das Parlament seine Souveränität und die britische Verfassungsordnung verteidigen - nicht gegen das Volk, sondern den Premierminister.“
Eliten wollen es mal wieder besser wissen
Der frühere EU-Parlamentarier Traian Ungureanu kritisiert hingegen auf seinem Blog bei Adevărul das Vorgehen des britischen Parlamentes scharf:
„Schlussendlich entscheidet die Mutter der Parlamente, dass sie ihre Nation als Waise zurücklässt und das Votum des Referendums vernichtet. Mindestens 17,4 Millionen Wähler werden als töricht abgestempelt. Erstaunlicherweise nennt man das Demokratie, und die, die sich widersetzen, werden als Anhänger der Tyrannei eingestuft. Das Parlament und noch weiter gefasst, das Establishment, hat sich abermals den Vorrang gegeben. Hinter diesem leidigen Anspruch kann nur die Idee stehen, dass es die Eliten mal wieder besser wissen.“
Johnsons letzte Karte
Johnson hat nicht mehr viel Spielraum, analysiert Ethnos:
„Er hat nur drei Möglichkeiten: Das Gesetz des Parlaments, das den No-Deal-Brexit blockiert, zu missachten. Sich selbst zu dementieren und den Austritt des Landes aus der EU zum dritten Mal zu verschieben … Oder, und dieses dritte Szenario wird von vielen als das wahrscheinlichste angesehen: Zurückzutreten und die Königin zu bitten, den Labour-Führer zu entsenden, damit er an seiner Stelle verhandelt, während er auf die Wahlen wartet. Vermutlich ist das die einzige Karte, die er noch übrig hat.“
No-Deal-Brexit würde Johnson entzaubern
Um den Briten die Augen zu öffnen, rät The Irish Independent:
„Labour-Chef Jeremy Corbyn sollte Boris Johnson noch einige Monate weiterregieren lassen. Und zwar so lange, bis das britische Wahlvolk mit den Konsequenzen eines harten Brexit à la Johnson in deren voller chaotischer Reichweite konfrontiert worden ist und sich der Wunsch gefestigt hat, den skrupellosen Architekten des EU-Austritts aus dem Amt zu jagen. Derzeit wehrt sich Labour nur gegen eine Neuwahl vor dem 31. Oktober. Das ist jener Tag, für den Johnson den Brexit versprochen hat. Wenn das Land an diesem Tag nicht aus der EU austritt, wäre das für Johnson wohl peinlich. Doch eine derart kurzzeitige Verzögerung reicht möglicherweise nicht aus, um einen Absturz von Labour bei einer folgenden Parlamentswahl zu verhindern.“
Europa muss die Quälerei beenden
Europa sollte den Brexit nicht weiter aufschieben, findet Novi list:
„Johnsons Verhandlungstaktik besteht nur aus selbstmörderischer Erpressung. ... Nun hat ihn die Mehrheit im Parlament dazu gezwungen, einen weiteren Aufschub des Brexit zu erbitten, unter der Annahme, dass die EU jedem Antrag zustimmen wird. Doch sollte Europa diese Quälerei diesmal beenden und einen neuen Aufschub ablehnen. Die EU-Mitglieder haben schon zweimal wohlwollend den britischen Gesuchen stattgegeben und den Brexit verschoben, obwohl die britische Politik diese zusätzliche Zeit nicht genutzt hat um sich auf eine gewollte Variante des Brexit zu einigen. Der Brexit ist schon lange ein ungewollter Ballast mit dem Großbritannien Europa von den wahren Herausforderungen und Problemen abhält.“
Jetzt täten festgeschriebene Regeln gut
Großbritannien beginnt unter dem Fehlen einer geschriebenen Verfassung zu leiden, unterstreicht Politologe Philippe Marlière in Mediapart:
„Alles stützt sich auf Präzedenzfälle und Traditionen. Die parlamentarische Demokratie Großbritanniens funktioniert gut, solange ihre Hauptakteure sich als tolerante, pluralistische und liberale Staatsdiener verstehen. Seit 2016 zählen die Personen, die mit dem Regieren beauftragt wurden, zu den opportunistischsten Politikern, die man sich nur vorstellen kann. Unter diesen Bedingungen kann das Fehlen schriftlicher Regeln zu einer Situation führen, die eine reibungslose Regierungsarbeit sowie die Demokratie allgemein gefährdet.“
Johnsons Gegner eint nicht viel
Die Chancen der Anti-Johnson-Allianz im Unterhaus, eine tragfähige Regierung zu bilden, sind gleich null, analysiert The Times:
„Eine 'Regierung der nationalen Einheit' wäre beim Thema Brexit hoffnungslos gespalten. Ihr würde eine Gruppe von Brexit-Gegnern angehören, die bis zuletzt alles versuchen werden, ein neuerliches Referendum über den EU-Austritt anzusetzen. Dieser Regierung würden aber auch Politiker angehören, die ihr ganzes politisches Leben bei den Tories verbracht und schon dreimal im Unterhaus für ein EU-Austrittsabkommen gestimmt haben. Die Allianz würde beim einzigen Thema, das ihr Entstehen begründete, keine einheitliche politische Linie haben. ... Es besteht Einvernehmen darüber, den No-Deal-Brexit zu verhindern. Doch wenn es um die nächsten Schritte geht, herrscht Uneinigkeit.“
Großbritannien nun im Klub gespaltener Länder
Die Wochenzeitung Tygodnik Powszechny erwartet kein baldiges Ende des politischen Streits:
„Die eigentliche Ursache der größten politischen Krise in Großbritannien seit dem Zweiten Weltkrieg wird sich sicherlich nicht ändern. Das Land ist gespalten. Das Vereinigte Königreich, in dem gemäßigte Politiker seit Jahrhunderten Erfolge feiern und alle Extreme als harmlose Spleens behandelt werden, ist in den Klub derjenigen Länder eingetreten, in denen eine solche Politik nicht mehr möglich ist. Zwei Lager befinden sich im politischen Kampf um Leben und Tod, und der Orientierungspunkt, hinter dem alles andere in den Hintergrund tritt, ist die Haltung zum Brexit.“
Einstige Außenseiter bestimmen jetzt die Politik
Fjodor Lukjanow, Chefredakteur der Zeitschrift Rossija w globalnoi politike, sieht in einem Gastkommentar für Kommersant Großbritannien als Opfer des Populismus:
„Es werden Leute in die Politik gezogen, die bisher schwiegen. Auf der linken Flanke geschah das schon vor einigen Jahren, als der Kreis der Wähler der Labour-Führung ausgeweitet wurde und Corbyn den Posten bekam. Rechts gab das Brexit-Referendum den Impuls: Die Euroskeptiker erweckten die nationalistische Masse. Die Neuwahlen werden zu einer Schlacht bisheriger Außenseiter, die jetzt die Anführer sind. Das System der bisherigen elitären Führung des Vereinigten Königreichs gerät aus allen Fugen. ... Vielleicht wird der Brexit-Schock ja zur Erschütterung, auf die eine Gesundung folgt - obwohl bislang wenig dafür spricht.“
Lebendige Demokratie
De Morgen findet lobende Worte für die Abgeordneten des Unterhauses:
„Die Brexit-Debatte zeigt die volle Kraft einer lebendigen Demokratie. ... Konservative Abgeordnete beweisen, wer die souveräne Macht des Volkes vertritt. Das ist mehr als ein Symbol. Das Ergebnis der Debatte über den Brexit kann möglicherweise entscheidend sein für den zukünftigen Wohlstand und Frieden auf den britischen Inseln. Es ziert die britischen Abgeordneten, dass sie auch die Grenzen von Mehrheit und Opposition überwanden und alles dafür einsetzten, um den Wunsch einer Mehrheit der Bürger - einen ordentlichen Austritt aus der EU - so gut es geht mit der Sicherung von Wohlstand und Frieden zu verknüpfen.“
Volksvertreter übernehmen die Kontrolle
Die Verabschiedung des Gesetzes zur Verhinderung eines No-Deal-Brexit hat das britische Parlament gestärkt, meint der Analyst Cristian Unteanu auf seinem Blog bei Adevărul:
„Die politische Niederlage ist umso schmerzhafter für die Konservativen, die weiter an Boris Johnsons Seite stehen, da die Situation jetzt zeigt, dass das Parlament wieder die vollständige Kontrolle über seine eigene Arbeitsagenda übernommen hat. Und dass es keinen Staatsstreich des Premiers duldet, der, wie Sie wissen, der Königin ein Zwangspause für das Parlament bis zum 14. Oktober vorgeschlagen hat, um eben genau die Brexit-Debatte zu verhindern.“
Drohungen zeigen keine Wirkung
Die Entscheidung des Parlaments gegen einen No-Deal-Brexit hat auch mit Johnsons Verhalten zu tun, kommentiert El País:
„Johnsons ungestüme Ankunft in der Downing Street diente als Katalysator für die Front gegen den No-Deal-Brexit, die jetzt eine Mehrheit hat. Sein Missbrauch des Parlaments, seine Respektlosigkeit gegenüber Ulster und Schottland und der Druck auf die eigene Fraktion, der mit dem Ausschluss der besten und angesehensten Mitglieder endete, taten ein Übriges. ... Bis jetzt hat sich Johnson mit Drohungen und Lügen durchgesetzt. ... Doch in seiner Partei haben die Drohungen nicht gewirkt: Die rebellischen Abgeordneten wollten lieber ausgeschlossen werden als zu kapitulieren.“
Noch ist für den Premier nichts verloren
Aus Neuwahlen könnte Johnson als der große Sieger hervorgehen, analysiert The Times:
„Es ist eine unglaublich gefährliche Situation für jene, die Johnsons Vorgehen verabscheuen, mit dem er das Land und die Konservativen politisch nach rechts rückt. Seine Anziehungskraft scheint sehr begrenzt zu sein. Laut Umfragen hat er nur ein Drittel der Wähler hinter sich, das ist deutlich weniger als Theresa May bei der Wahl 2017 erhielt. Doch laut derzeitigen Prognosen wird er damit dennoch eine komfortable Mehrheit von 25 bis 30 Sitzen im Unterhaus erlangen, weil die Opposition gegen ihn so gespalten ist. ... Wenn es den linken und liberalen Parteien nicht gelingt, wahltaktisch so gut zusammenzuarbeiten wie bei den Abstimmungen in den vergangenen Tagen, könnte Johnson doch noch den Sieg davontragen, den er laut eigener Aussage gar nicht anstrebt.“
Auch die EU trägt Schuld
Großbritannien trägt nicht allein die Schuld am Brexit-Desaster, findet Göteborgs-Posten:
„Die EU-Verhandlungsführer hatten eine enorme Geduld, doch es gibt immer zwei Parteien bei einer Verhandlung. ... Die Haltung der EU war manchmal ziemlich stur. Zum Beispiel lehnte die EU den Wunsch Großbritanniens ab, in der Freihandelszone zu bleiben (wovon sowohl Großbritannien als auch die EU profitieren würden) und zugleich die Freizügigkeit von EU-Bürgern nicht zuzulassen. ... Warum sollte man nicht eine Vereinbarung unterzeichnen, die beiden Parteien dient?“