Wer muss nun auf wen Rücksicht nehmen?
Der Kampf gegen die Ausbreitung der Corona-Pandemie bringt für alle Menschen erhebliche Einschränkungen und Belastungen mit sich. Politiker und Prominente mahnen gesellschaftlichen Zusammenhalt und Solidarität an - doch Einige scheinen sich von diesen Rufen nicht angesprochen zu fühlen. So entspinnt sich in den Medien auch eine Debatte darüber, wer in dieser Krise welche Verantwortung hat.
Senioren und Kranke müssen selber aufpassen
Solidarität müssen jetzt vor allem Ältere und Gefährdete zeigen, ist die Neue Zürcher Zeitung überzeugt:
„Eigentlich ist es offenkundig: Wenn Senioren und Chronischkranke nicht an Covid-19 erkranken und die Spitäler verstopfen sollen, dann ist es in erster Linie ihre Verantwortung, alles vorzukehren, damit sie sich nicht mit dem Virus anstecken. ... Erst in zweiter Linie sind die jungen und gesunden Personen gefordert. Hier geht es um die vielgepriesene Solidarität. Die Hauptverantwortung der Jungen und Gesunden liegt darin, keine vulnerablen Menschen anzustecken. Wenn sie dagegen andere junge und gesunde Personen anstecken, ist das kaum ein Problem – solange die Schutzmauer zwischen Jung und Alt sowie zwischen Gesund und Krank ... funktioniert. Und darum geht es bei den geforderten Verhaltensregeln.“
Ältere brauchen Hilfe statt Hetze
Azonnali kritisiert den Shitstorm gegen ältere Menschen, die trotz der Warnungen auf die Straße gehen:
„Statt Fotos zu schießen, wenn ältere Menschen im Bus vorne sitzen, obwohl das verboten ist, könnte man sie einfach informieren, dass man sich jetzt nicht dorthin setzen darf. Wenn man auf dem Markt unterwegs ist, könnte man sie vielleicht fragen, warum sie eigentlich da sind. Oder man könnte eventuell Verständnis haben dafür, dass es ab einem bestimmten Alter nicht so leicht fällt, sein alltägliches Leben aufzugeben. Man kann auch nicht erwarten, dass ältere Menschen immer up-to-date sind und glaubwürdige Quellen konsultieren. Nicht, weil sie blöd sind, sondern weil sie alt sind.“
Pandemie verschärft die Ungleichheit
Die Corona-Krise trifft die Bedürftigsten am heftigsten, sorgt sich Le Courrier:
„Die Verdammten dieser Erde - Flüchtlinge, Obdachlose, illegale Zuwanderer - sind, weil sie unsichtbar gemacht werden, noch verwundbarer. Berufe, die an der Front am relevantesten sind, werden häufig von Frauen ausgeübt: Verkäuferinnen, Pflegerinnen, Erzieherinnen, Lehrerinnen. Zur sozialen Ungleichheit kommt hier die Geschlechterungleichheit hinzu. … Und dann ist da noch die dritte Ungleichheit: die traditionelle zwischen Nord und Süd. Auch hier lässt sich voraussagen, dass die medizinische Bilanz ungleich ausfallen wird. … Die enormen Summen, die derzeit locker gemacht werden, sollten vorrangig dem Schutz der Schwächsten zukommen. Wie man in den USA sieht, dienen sie jedoch in erster Linie dazu, im Namen der Aufrechterhaltung der Wirtschaft die Interessen der Investoren zu schützen.“
Junge Mimosen sind denkbar schlecht gerüstet
Junge Menschen könnten von der Krise mental überfordert sein, meint The Spectator:
„Heute ist es cooler, ein Opfer zu sein, als stolz darauf, seine Werte klar zu leben. Wir werden ermutigt, unsere Wunden zu zeigen, anstatt jene Erfolge zu feiern, die wir dank unserer eigenen Entscheidungen erzielt haben. 'Sensibelchen' sind heute überall zu finden, insbesondere unter jungen Menschen, die auch die kleinsten Probleme als tödlichen Schlag gegen ihr Selbstwertgefühl und jede Unbequemlichkeit als Akt struktureller Unterdrückung interpretieren. ... Werden die Jungen in einer Zeit, in der die Gesellschaft wirklich an einem Strang ziehen muss, wenn wir dringend generationsübergreifenden Mut und Solidarität benötigen, dieser gewaltigen Aufgabe gewachsen sein?“
Privilegierte Egoisten verbreiten das Virus
Die Ausbreitung der Pandemie hat viel mit neoliberalem Egoismus zu tun, erklärt Kolumnistin Catalina Ruiz-Navarro in der kolumbianischen Tageszeitung El Espectador:
„Personen aus der oberen Mittel- und Oberschicht sind verantwortungslos nach Lateinamerika gereist, obwohl ihnen klar war, wie gefährlich das Virus für die Verwundbaren ist: für Senioren und Menschen ohne gute Gesundheitsversorgung. Das lässt eine ethische Grundhaltung erkennen, die dem Paradigma des Neoliberalismus entspricht: immer ich zuerst, meine Bequemlichkeit, mein Gewinn, mein Blick auf die Welt. Die neoliberale Ethik ist individualistisch und versteht die Freiheit so, dass jede privilegierte Person machen darf, wozu sie Lust hat, ohne an die anderen zu denken. Es ist eine Ethik, die das Kapital über das Leben stellt.“