Erdoğan legt sich mit der Geschichte an
Mit markigen Worten über den Vertrag von Lausanne hat Erdoğan nicht nur den kemalistischen Gründungsmythos seines Landes infrage gestellt, sondern auch die Grenzen mit Griechenland: Der türkische Präsident bezeichnete das Abkommen von 1923, in dem die Grenzen der heutigen Türkei festgeschrieben wurden, als eine Schmach und bedauerte die damalige Abtretung von Ägäis-Inseln an Griechenland. Sind seine Worte eine Gefahr für Athen und Nikosia?
Nachbarn haben keinen Grund zur Panik
Der Professor für Geschichte der Diplomatie, Giannis Stefanidis, bringt auf Protagon etwas Nüchternheit in die Debatte:
„Egal, was die türkischen Nationalisten fantasieren, ist die Änderung der Grenzen kein praktisches politisches Ziel. ... Die einzige Möglichkeit, die Grenzen eines Staats infrage zu stellen, ist - wie die Nachkriegserfahrung zeigt - dass ein Land zu einem Failed State wird (wie es in Kolonialreichen oder autoritären Vielvölkerstaaten geschehen ist, z.B. dem ehemaligen Jugoslawien, Pakistan und Sudan). Aber auch in so einem Fall werden nicht revisionistisch expansionistische Nachbarn begünstigt, sondern nur die nationalen Separatisten. Nun, welche Chance hat Griechenland, ein gescheiterter Staat zu werden und in eine Auflösungsphase zu geraten? Die Wirtschaftskrise und das Scheitern der politischen Parteien, diese zu verwalten, hätte die Büchse der Pandora öffnen können - wenn es Bevölkerungsgruppen gegeben hätte, die die Unabhängigkeit oder ihre Integration in einen Nachbarstaat erreichen wollen.“
Präsident sollte Lausanne-Vertrag genau lesen
Wenn Erdoğan schon den Vertrag von Lausanne anspricht, dann sollte er sich auch an die dort garantierte Gleichberechtigung von Minderheiten halten, fordert die Wochenzeitung der armenischen Minderheit Agos:
„Auch wenn der Vertrag von Lausanne im Vergleich zu unseren heutigen universellen Minderheiten- und Menschenrechten zurückbleibt, hat die Türkei die dort aufgestellten Bestimmungen sehr oft missachtet. Wenn man sich die Artikel anschaut, die die Rechte von Mitgliedern verschiedener Gruppen regeln, fällt auf, dass die Türkei in ihrer Geschichte und heute in der Praxis ständig gegen diese Bestimmungen verstoßen hat. ... Wenn Erdoğan dieses Thema heute auf die Tagesordnung bringt, so entsprechen seine falschen Worte der Lüge, die der rechte islamistische Flügel seit jeher verbreitet hat. Zudem sorgt sich dieser Flügel nicht über den Verstoß der oben genannten Bestimmungen. Im Gegenteil, in diesem Punkt sind sie mit den [kemalistischen] Eliten der Republik einer Meinung.“
Ankara braucht diplomatischere Rhetorik
Gerade weil Ankara derzeit eine Militäroperation in Syrien durchführt, sollten Worte mit Bedacht gewählt werden, rät Hürriyet:
„Die Türkei arbeitet daran, ihre Grenzen zu Syrien und zum Irak, die in Lausanne gezogen wurden, zu bewahren. Wir stehen überlebenswichtigen Problemen gegenüber. ... Doch die Operation Schutzschild Euphrat muss nicht nur militärisch, sondern auch mit geschickter Diplomatie geführt werden. Es sollten Stil und Verhaltensweisen vermieden werden, die den Verdacht erregen, die Türkei verfolge eine imperialistische Politik. Enthusiastische Worte, die gesagt wurden, um innenpolitisch zu motivieren, können außenpolitisch Misstrauen und Reflexe hervorrufen. ... Die Türkei passiert eine wirklich kritische Phase. Ebenso wie Stärke und Willen braucht sie eine diplomatische Sprache, politischen Rationalismus und eine Vermehrung der Freunde.“
Athen muss seine Grenzen allein schützen
Griechenland kann nicht auf Europa zählen, falls der Konflikt mit Ankara eskaliert, fürchtet To Vima:
„Niemand glaubt, dass wenn die Türkei aggressive Aktionen gegen Griechenland durchführt, Europa eilig reagieren wird mit der Begründung, dass die europäischen Grenzen bedroht sind. Dies sind Märchen, und wir alle wissen das. Wir haben es in der Krise [1996] um die kleine unbewohnte Insel Imia erlebt, wir sehen es beim Flüchtlingsproblem, wir erleben es seit Jahren mit den täglichen Verletzungen des Luftraums [durch türkische Kampfflieger]. ... Wir sollten die Märchen vergessen und verstehen, dass die Vorstellung gemeinsamer europäischer Grenzen nur in unserer Fantasie existiert. ... Wir sollten endlich mit den Täuschungen und Lügen aufhören und erkennen, dass, wenn wir nicht selbst unsere Grenzen schützen, dies niemand in Europa tut.“
Präsident hegt gefährlichen Plan
Die Worte des türkischen Präsidenten sollten von Griechenland und Zypern unbedingt ernst genommen werden, mahnt Phileleftheros:
„Es könnte sein, dass die Aussagen Erdoğans den Druck zeigen, den das Regime in Ankara wegen des Neuziehens der Grenzen im Irak und in Syrien spürt. Man sollte jedoch nicht die Tatsache herunterspielen, dass diese Aussagen mit einem Plan und großen Zielen verbunden sind. Das Erdoğan-Regime will im Jahr 2023 zum 100-jährigen Jubiläum des Bestehens des türkischen Staats Ergebnisse präsentieren, die die Türkei stärken und vergrößern. ... Erdoğans Pläne gehen uns etwas an, da wir mit diesem Politiker angeblich eine Lösung für die Zypernfrage finden müssen. Er hat die Richtung für sein Land bereits entschieden. Und was tun wir? Wir sind dogmatisch auf uns bekannte Sachen konzentriert, obwohl es ständig neue Entwicklungen gibt und auf der anderen Seite Pläne gemacht werden.“
Athen sollte wachsam sein
Erdoğan wollte mit seinen nationalistischen Tönen sicher nicht nur die eigene Bevölkerung erreichen, warnt Kathimerini:
„Die Interpretation, dass Erdoğans Aussagen nur für den innenpolitischen Gebrauch bestimmt waren, ist nicht leicht zu akzeptieren. Denn es sollte uns Sorgen machen, dass er sich nur auf die Inseln in der Ägäis bezog, obwohl der Vertrag von Lausanne alle Grenzen der heutigen Türkei betrifft. Wahrscheinlich setzt Ankara Themen auf die Agenda, um sich für künftige Entwicklungen mit der Nato und der EU zu wappnen und sendet Signale in verschiedene Richtungen, falls [in Syrien] ein kurdischer Staat entstehen sollte. Griechenland muss unbedingt besonnen bleiben, aber auch wachsam und vorbereitet.“