Welches Ziel verfolgt die Türkei in Syrien?
Türkische Truppen konzentrieren sich beim Einsatz in Syrien weiterhin auf die Grenzregion. Laut Präsident Erdoğan gehe es darum, Terroristen nahe der Stadt al-Bab zu bekämpfen. Eigentlich geht es ihm aber auch um kurdische Milizen, analysieren Kommentatoren.
Ankara setzt auf die Freie Syrische Armee
Die Türkei führt ihr militärisches Engagement in Syrien fort, um die Grenzregion nicht nur von der IS-Terrormiliz, sondern auch von der kurdischen PYD zu befreien, analysiert Hürriyet Daily News:
„Al-Bab ist für die Türkei in Syrien von entscheidender Bedeutung. Die Stadt auf der Straße zwischen Manbidsch und Aleppo befindet sich momentan in den Händen der IS-Miliz. Die [kurdischen] PYD/PKK wollen nicht, dass von der Türkei unterstützte Streitkräfte al-Bab einnehmen, weil es einen Keil zwischen die von ihnen kontrollierten Regionen Afrin in Westsyrien und Kobane östlich des Euphrat treiben würde. Die USA lehnen die Übernahme von al-Bab durch die PYD ab. Doch momentan sind sie nicht so sehr am Westen Syriens interessiert, da das von Russland unterstützte syrische Regime dort weiterhin starken Einfluss hat. Die Kontrolle der Freien Syrischen Armee über al-Bab ist für die Türkei ein Schlüssel, um sowohl den IS als auch die PYD fern ihrer Grenze zu halten.“
Es geht auch um Öl und Gas
Ankara verfolgt mit seinem Vorgehen gegen die Kurden in Nordsyrien nicht nur sicherheitspolitische Ziele, beobachtet die kemalistische Sözcü:
„Russland und die syrischen Kurden haben bereits Gedankenspiele über eine Ölpipeline und parallel dazu eine Gaspipeline begonnen, die durch Nordsyrien verläuft und Öl und Gas aus dem Nordirak und von Mossul bis zum Mittelmeer befördert. Verhandlungen mit den irakischen Kurden wurden bereits begonnen. Hinter den diplomatischen Kulissen wird erklärt, dass diese Pipelines innerhalb von anderthalb bis zwei Jahren gebaut werden können, sobald die PYD/YPG in Nordsyrien den gewünschten Korridor unter ihrer Kontrolle hält. Sollte das verwirklicht werden, würde das für die Türkei nicht bloß Sicherheitsprobleme bedeuten, sondern würde auch Ankara aus dem Energiegleichgewicht des Nahen Ostens ausgeschlossen. Die aktuelle Operation des türkischen Militärs in Nordsyrien muss man auch aus diesem Blickwinkel lesen.“
USA schüren Kurdenkonflikt
Die USA haben die syrische Kurdenmiliz PYD, die der PKK nahe steht, mit Waffen ausgerüstet und damit auch den Kurdenkonflikt in der Türkei wieder angeheizt, schimpft die regierungstreue Star:
„[Das PKK-Hauptquartier] Kandil hat sich nach Nordsyrien verlagert. Es ist eine richtige Terrorbasis und steht leider unter der Schirmherrschaft der USA. ... Im Namen des Kampfes gegen den IS wurde die PKK unter dem Deckmantel PYD legitimiert und mit ultra-modernen Waffen ausgestattet. Mit dieser Unterstützung kann Salih Muslim heute den gewählten Führer der Türkei unverschämt attackieren und seine Bedrohungen fortsetzen. ... Die USA sollten ihre Haltung endlich klar machen. Wenn sie wirklich ein Freund der Türkei sind, sollten sie aufhören, die unerbittlichen Feinde der Türkei zu unterstützen und zu schützen.“
Warten auf die Reaktion Russlands
Der türkische Militäreinsatz in Syrien wird nicht ohne Reaktion Russlands, Saudi-Arabiens und Katars bleiben, warnt Politikwissenschaftler Stefanos Konstandinidis in Phileleftheros:
„Vorerst hat Moskau 'Besorgnis' über die Entwicklungen ausgedrückt. Wenn die türkischen Operationen begrenzt bleiben, ist es sehr wahrscheinlich, dass Russland still bleibt. Wenn sie jedoch erweitert werden, wird Moskau eine türkische Präsenz in Syrien kaum akzeptieren. Unbekannt bleiben bisher auch die Reaktionen aus Saudi-Arabien und Katar, die rivalisierende islamistische Gruppen in Syrien unterstützen. Sicher ist jedoch, dass die syrischen Kurden der türkischen Invasion widerstehen werden.“
Wir wollen nur Sicherheit für unser Land
Ankara zeigt mit seiner Militärintervention in Syrien, dass es Terror und Grenzverletzungen nicht duldet, lobt die regierungstreue Daily Sabah:
„Weder der IS-Miliz noch der PYD wird mehr erlaubt, mit der Türkei zu spielen. Der PYD-Führer Salih Muslim sagte, mit ihrem Einmarsch in Syrien hätte die Türkei einen Sumpf betreten. Wenn Muslims Kampf gegen die IS-Miliz echt wäre, wäre er erfreut darüber, dass es türkische Truppen auf diese abgesehen haben. Doch er hatte nie ernsthafte Absichten, die IS-Miliz zu bekämpfen. ... Die Türkei hat nicht die Absicht, in ein ausländisches Territorium einzufallen. Was wir wollen, ist Sicherheit an unseren Grenzen und die Beseitigung aller Bedrohungen durch die IS-Miliz, die PKK und die PYD. Die Türkei hat gezeigt, dass sie die PYD nicht in Manbidsch will und sie bekommt, was sie will. Das ist eine klare Botschaft an US-Vize-Präsident Joe Biden, der uns während seines Ankara-Besuchs mit seinem falschen Hollywood-Lächeln blendet.“
Erdoğan fürchtet einen Kurdenstaat
Die Syrien-Offensive der Türkei hat nicht unbedingt Frieden zum Ziel, erklärt Aftonbladet:
„Gewiss will Erdoğan den IS bekämpfen. Doch er hat selbst gesagt, dass die Offensive ebenfalls gegen die kämpfenden syrischen Kurden gerichtet ist. Viele türkische Oppositionelle und ausländische politische Analysten glauben, dass die Kurden das Hauptziel der Offensive sind. ... In den meisten Ländern im Nahen Osten wird die Gemeinschaft mit Hilfe von Religion oder Nationalismus geformt. Dies erfordert die volle Loyalität und Unterwürfigkeit der Bewohner dieser Länder - weshalb die Kurden und andere Minderheiten unterdrückt wurden. ... In der Türkei ist jeder fünfte Bürger Kurde. Ankara fürchtet, dass die Kurden nach dem Erfolg im Irak auch ihre Position in Syrien konsolidieren und schließlich ein Kurdenstaat entsteht. Die türkische Invasion in Syrien ist nicht der Weg zum Frieden. Erdoğan muss zum Dialog und zu Verhandlungen zurückzukehren.“
Nur Teilung kann Syrien Frieden bringen
Eine umfassende europäische Friedensinitiative fordert mit Blick auf die türkische Invasion in Syrien die Tageszeitung De Morgen:
„Wer in Europa wird den kurzsichtigen Blick vom Waffeneinsatz abwenden und gezielt nach Frieden in Syrien Ausschau halten? Genau wie die Dayton-Verträge von 1995, die die Waffen in Bosnien zum Schweigen brachten, wird auch in Syrien eine multinationale Friedensmacht befristet Demarkationslinien ziehen müssen. Wenn das der Preis ist, um das Blutbad zu stoppen, muss das Land geteilt werden in schiitisch-alawitische, sunnitische, christliche und kurdische Teilgebiete. Nicht im Namen von Allah, Gott, oder aus geopolitischem Interesse, sondern im Namen der 8,4 Millionen syrischen Kinder, die täglich unter dem Konflikt leiden.“
Einmarsch gilt vor allem den Kurden
Der türkische Einmarsch in Syrien gilt vor allem den Kurdenmilizen der YPG, analysiert die Neue Zürcher Zeitung:
„Die Unterdrückung kurdischer Autonomiebestrebungen zählt ... seit je zur Staatsräson in der Türkei. Sie erklärt, warum Regierung und Generalität in dieser Frage stets an einem Strang ziehen und warum Erdoğan den IS und die YPG auf eine Stufe stellt ... Bleiben ihre Panzer dauerhaft auf nordsyrischem Territorium, sind Konflikte mit den Kurden und ihrer Schutzmacht, den Vereinigten Staaten, vorgezeichnet. Die Amerikaner wird es zwar freuen, dass die Türken nun entschlossen militärisch auch gegen den IS vorgehen. Schlecht beraten wären die USA aber, dafür jene Kräfte im Stich zu lassen, die sich bisher noch immer als die schlagkräftigsten Gegner der Terrormiliz erwiesen haben. Die Kurden wiederum sollten begreifen, dass ein weiteres Vorrücken halsbrecherisch ist und auch ihrem Expansionsdrang Grenzen gesetzt werden müssen.“
Washington biedert sich Ankara an
Die USA knicken ein und biedern sich in der Kurdenfrage Ankara an, kritisiert die La Repubblica:
„Anders als noch vor wenigen Tagen, als die Kurden unweit von der Grenze mit Hilfe der US-Luftwaffe Manbidsch vom IS befreiten, haben die US-Generäle zur Zufriedenheit der Türken den Kurden diesmal erklärt, man werde letztere nicht unterstützen. Im Gegenteil, man forderte die Kurden auf, die Finger von Dscharablus zu lassen. Die Stadt sei den Türken und befreundeten Milizen vorbehalten. Es ist ein Versöhnungsgeschenk der USA für Erdoğan, der gestern Joe Biden empfing. Der US-Vizepräsident hat noch weitere Geschenke - oder Beruhigungspillen - im Gepäck, um den von der Kurdenfrage besessenen Hausherrn zu besänftigen. Mit der Unterstützung der türkischen Position scheinen die USA einlenken zu wollen: Es ist eine Abkehr von den Kurden, die noch bis gestern das schlagkräftige Fußvolk der von den USA gelenkten Anti-IS-Koalition waren.“
Letzte Phase des Syrienkriegs
Nach dem türkischen Einmarsch in Syrien könnten die USA ihre Zusammenarbeit mit den kurdischen Milizen im Kampf gegen den IS beenden, fürchtet die Tageszeitung taz:
„Wie schon zuvor mit dem Auftritt der Russen in Syrien werden die USA sich nun auch mit dem Militäreinsatz ihres Nato-Verbündeten Türkei arrangieren müssen. Konkret heißt das, sie werden die Kurden - mit denen sie im Kampf gegen den IS seit 2014 eng kooperiert haben - drängen, ihren Vormarsch nach Westen zu stoppen, um eine direkte Konfrontation mit türkischen Truppen zu vermeiden. Weigern sich die [kurdischen] YPG-Milizen, könnte es sein, dass die USA sie fallen lassen - und die Kurden zum ersten Opfer bei der Neuordnung Syriens werden. Mit dem aktiven Kriegseintritt der Türkei dürfte der Syrienkrieg in seine letzte Phase gehen. Jetzt werden die Einflusszonen abgesteckt, die bei einem zukünftigen Waffenstillstand das neue Syrien vorerst ausmachen werden.“
Kurdenphobie stürzt Türkei ins Chaos
Die Kurdenpolitik Ankaras während des Syrienkriegs war durchweg falsch, kritisiert das liberale Onlineportal T24:
„Einer der wichtigsten Gründe dafür, dass die Syrienpolitik von Beginn an in eine Sackgasse führte, ist die Kurden-Feindschaft in der Türkei. ... Hätte Ankara zu Beginn des Konflikts mit den [westsyrischen] Kurden von Rojava kooperiert, die der Türkei ihre Hände reichten, und eben nicht mit dem IS oder anderen Dschihadistengruppen direkt oder indirekt zusammengearbeitet, hätte man die Kurdenfrage auf friedlichem Wege und mit einer Stärkung der Türkei lösen können. Vor allem hätten die ausweglose große Verwüstung und das Vorgehen gegen die Kurdenbewegung im Südosten [der Türkei] nicht stattfinden müssen. Die erschreckenden Ereignisse des letzten Jahres dort entstanden aus der Kurdenphobie der Herrscher heraus und haben zugleich die Türkei in die Gefahr gebracht, sich in ein zweites Syrien zu verwandeln.“