Hat Erdoğan die Türkei verwundbar gemacht?
Nach dem Anschlag auf einen Istanbuler Nachtclub sucht die Polizei weiter nach dem Täter. Sie veröffentlichte ein Foto, auf dem der Mann zu sehen sein soll, der in der Silvesternacht 39 Menschen erschoss. Die Terrormiliz IS hatte sich zur Tat bekannt. Kommentatoren sehen nicht nur Erdoğans Syrien-Politik als Ursache für den Terror, sondern auch die Verhaftungswellen nach dem Putschversuch.
IS ist Erdoğan über den Kopf gewachsen
Präsident Erdoğan hat die IS-Miliz im Nachbarland Syrien zu lange aus Eigennutz gewähren lassen, was sich nun rächt, glaubt Večer:
„Er hat ein Auge zugedrückt, als ausländische Kämpfer dem IS beigetreten sind. Er hat zugelassen, dass der IS gestohlenes Erdöl und archäologische Artefakte schmuggelt. Er hat naiv damit gerechnet, dass die extreme sunnitische Gruppe auch für ihn mit dem Regime des Alawiten Baschar Al Assad und den Kurdenrebellen an den Grenzen zu Syrien und Irak abrechnet. Wie schon so oft in der Geschichte ist auch ihm das kleinere Übel über den Kopf gewachsen. Die Terrormiliz IS zahlt ihm seinen Fehler nun mit Terrorismus auf seinem Boden heim. Ähnlich verhält es sich mit den Kurden. Um an sein Ziel zu kommen, alle Vollmachten des Präsidentenamtes an sich zu reißen, wozu er eine nationale Einheit benötigt, hat er die Verhandlungen mit der größten Minderheit im Land aufgehoben. “
Politische Säuberungen haben Türkei geschwächt
Die Anschläge in der Türkei zeigen auch, wie sehr die Verhaftungswelle nach dem Putschversuch den Sicherheitskräften geschadet hat, urteilt El Periódico de Catalunya:
„Viele der Anschläge, die in der Türkei 2016 verübt wurden, waren das Werk von kurdischen Milizen, die in Syrien kämpfen und große Effizienz dabei bewiesen, den Dschihadisten das Land abzunehmen. Aber Erdoğan fürchtet, dass diese fähigen Kämpfer die autonome Kurdische Zone im Irak erreichen und dort eine Union errichten, die Ankara unter keinen Umständen tolerieren will. Die neue Welle von Anschlägen von der einen oder anderen Seite zeigt außerdem gravierende Sicherheitsmängel auf. Die von Erdoğan angeordneten Säuberungen im Heer und anderen Sicherheitskräften des Landes nach dem gescheiterten Putschversuch zeigen hier ihre Wirkung. Das beweist auch die Leichtigkeit, mit der am 19. Dezember der russische Botschafter in Ankara ermordet wurde.“
Hilflos gegenüber Anschlägen
Die Türkei muss einsehen, dass sie mit ihrem militärischen Vorgehen in Syrien Terroranschläge nicht wird verhindern können, betont der Independent:
„Es ist erkennbar, dass die türkische Regierung nicht weiß, was sie tun soll, um derartige Attentate zu stoppen. Sie werden wahrscheinlich mit unerbitterlicher Härte immer wieder geschehen. ... Präsident Erdoğan droht, die Terrormiliz IS und die syrischen Kurden mit einem Vormarsch im nördlichen Syrien zu vernichten. Türkische Streitkräfte befinden sich in der Nähe der IS-Hochburg al-Bab im Nordosten Aleppos, wo sie auf harten Widerstand stoßen und erhebliche Verluste erleiden. Trotz Erdoğans kämpferischer Worte ist es überhaupt nicht klar, was die Türkei und ihre lokalen Verbündeten in Nordsyrien erreichen möchten. Hier haben sie wenige echte Freunde und viele gefährliche Feinde und lassen sich in einen Kampf hineinziehen, den sie nicht in aller Klarheit gewinnen können. “
Muslime müssen sich gegen Dschihadismus wehren
Als Reaktion auf zahlreiche Internetkommentare, in denen ultrareligiöse Türken den Anschlag auf den Istanbuler Nachtclub feierten, hat die türkische Regierung am Montag angekündigt, diskriminierende Kommentare bezüglich Lebensstil und Konfession strafrechtlich zu verfolgen. Das war bitter nötig, findet Hürriyet:
„Denn Gesellschaften, die bezüglich Lebensstil und Werten gespalten sind und unterschiedliche Lebensstile nicht als Freiheit ansehen, sondern als 'Blasphemie' brandmarken, heizen Spannungen an und erhöhen das Gewaltpotential. ... Solange sich Muslime nicht mit Tugend und Weisheit von Begriffen wie Blasphemie und Dschihad entfernen, werden sie weiter die problematischste Gesellschaftsgruppe der Welt bleiben. ... Muslime müssen sich nicht nur gegen Terroranschläge stellen, sondern auch gegen das dschihadistische Weltbild, das diese verursacht.“
Feiern wurde Türken längst verleidet
Die türkische Regierung hat mit ihrem Feldzug gegen den liberalen Lebensstil den Boden für den Terror bereitet, schimpft Kolumnist Tayfun Atay in der regierungskritischen Tageszeitung Cumhuriyet:
„Während ich den Stift in die Hand nehme, um diesen Text zu schreiben, höre ich wie das Massaker im Reina von den Fernsehkommentatoren gebetsmühlenartig mit dem 'Syrien-Faktor', einem 'Spiel ausländischer Kräfte', 'internationalem Terror', einer 'imperialistischen Verschwörung' und Begriffen ähnlicher Rhetorik in Zusammenhang gebracht wird. ... Man wünscht nun Gnade für die Toten und schnelle Genesung für die Verletzten. Als ob nicht seit Tagen für diejenigen, die das neue Jahr mit Fröhlichkeit, Freude und Vergnügen begrüßen wollten, der Hexenkessel brodelte! Als ob Silvester, assoziiert mit Weihnachten, nicht etwa als Sünde, verboten, unrein, Fluch und sogar aus den offiziellsten Mündern als 'illegitim' erklärt worden wäre! ... Was braucht es in so einem 'fruchtbaren' Klima noch mehr zu dschihadistisch-salafistischem Terror?“
Erdoğan destabilisiert sein Land
Die repressive Politik von Präsident Erdoğan ist für die wachsende Unsicherheit in seinem Land mitverantwortlich, glaubt Der Standard:
„Fünf Monate ist die Türkei nun bereits im Ausnahmezustand und der Sicherheitsapparat in dauernder Alarmbereitschaft. Trotzdem reißt die Serie der Terrorakte nicht ab. Polizei und Geheimdienst mögen vieles verhindern, doch die Tatsache bleibt: Die Türkei ist instabil, die Sicherheit nicht gegeben. Dabei sollte die Herrschaft des einen, 'starken' Mannes an der Spitze der Türkei ebendas garantieren. Schnelle Entscheidungen, ein einiges Volk, Stärke und Selbstbewusstsein. Seit Tayyip Erdoğan 2014 ins Präsidentenamt einzog, geht es allerdings bergab. Der Krieg im benachbarten Syrien und im Irak erklärt viel, aber nicht alles. Erdoğans Strategie, immer nur mehr Macht für sich anzuziehen und dafür die Gesellschaft weiter zu spalten, erweist sich jetzt als fatal für die Bürger der Türkei.“
Der Westen muss der Türkei beistehen
Die Türkei braucht nach dem jüngsten Anschlag jedwede Hilfe des Westens, argumentiert The Times:
„Ein erstes Zeichen der Unterstützung wäre es, wenn der Westen seine Geheimdienstinformationen zur Terrormiliz IS und anderen islamistischen Terrorgruppen, die vom Waffenstillstand [in Syrien] ausgeschlossen sind, ausgiebiger mit der Türkei teilen würde. Es ist richtig, dass der Westen Erdoğan davor warnt, dass sich sein willkürliches Durchgreifen [gegen Regimegegner] als kontraproduktiv erweisen kann und er die liberale Mittelklasse der Gesellschaft von sich distanziert, statt größere Sicherheit herzustellen. Aber der Westen sollte seine Sprache im Umgang mit diesem reizbaren und manchmal fast paranoiden Präsidenten mit Bedacht wählen. Die Türkei ist ein unverzichtbarer Verbündeter und sie braucht in dieser tragischen Stunde so viel Sympathie und Hilfe wie möglich.“
Unsere Alltäglichkeit verteidigen
Der Terror darf es nicht schaffen, unseren Lebensstil zu zerstören, mahnt Corriere della Sera:
„In einer tragischen Kontinuität mit dem vergangenen Jahr ist der Wille offenkundig, alles anzugreifen und zum Schweigen zu bringen, was in den Augen des Terrorismus unsere Art des Zusammenlebens betrifft. Feiern, Vergnügen, religiöse und weltliche Feste, Riten von Weihnachten und Neujahr, die Möglichkeit, sich frei zu bewegen, alltägliche Rituale, vor allem im Universum der Jugend, sich treffen, tanzen, Musik hören. Das 'Zusammensein' wird schlicht und ergreifend zur beweglichen Zielscheibe, die leicht zu treffen ist, leichter als die so genannten sensiblen oder institutionellen Ziele. ... Angesichts eines so heimtückischen Feindes muss die legitime Verteidigung der Menschheit, die der internationalen Gemeinschaft obliegt, möglich und einhellig sein. Wir müssen unsere Alltäglichkeit verteidigen mit dem gleichen Geist der Londoner unter den Bomben Hitlers: Weiterleben.“