Russischer Botschafter in Türkei ermordet
Nach dem Attentat auf Andrej Karlow, Moskaus Botschafter in Ankara, ermittelt ein russisch-türkisches Team die Hintergründe der Tat. Der Diplomat war am Montag von einem türkischen Polizisten erschossen worden, der dabei "Gott ist groß" und "Vergesst nicht Aleppo" rief. Dass die Ermordung bisher nicht zu bösen Worten zwischen Moskau und Ankara geführt hat, beschäftigt die Presse nicht nur in der Türkei.
Ankara wechselt Freunde wie andere das Hemd
Die türkische Regierung ist auf Kuschelkurs mit Russland, dabei gab es noch am Montag Proteste mit dem Slogan "Mörder Russland" vor dem russischen Konsulat in Ankara, beobachtet die kemalistische Tageszeitung Sözcü:
„Die Polizei ging nicht gegen diese Menschen vor, ja schützte sogar die Umgebung, damit sie wirkungsvoller protestieren konnten. Als das Attentat auf den russischen Botschafter verübt wurde, wurde die Menge zerstreut. ... Einen Tag später unterzeichneten unser Außenminister und unser Verteidigungsminister mit ihren russischen und iranischen Amtskollegen einen gemeinsamen Plan. ... Dieses offizielle Dokument beweist, dass die Syrienpolitik [Ankaras] der letzten fünf Jahre gescheitert ist. Die falschen Entscheidungen der Führer der Türkei haben zur größten Krise in der Geschichte des Landes geführt und zugleich unsere Sicherheitslage gefährdet. Der nächste Schritt wird sein, nach Damaskus zu gehen, Assad die Hände zu schütteln und ihn um Verzeihung zu bitten.“
Neue Achse des Bösen in Nahost
Während der Westen immer mehr Einfluss in Nahost verliert, bilden Moskau, Ankara und Teheran eine effektive Allianz in der Region, klagt The Times:
„Sogar die einfältigsten Diplomaten in der Region erkennen, dass die Regeln neu geschrieben werden. Recep Tayyip Erdoğan könnte sich nun Wladimir Putin im Osten zuwenden und sich von einem widerwilligen Europa abwenden. ... Was die USA betrifft, sind Putin und Erdoğan beide Skeptiker. So wie sie das amerikanische politische System einschätzen, wird der neue Präsident Donald Trump wohl ein Gefangener machtvoller Interessengruppen werden. Sowohl Erdoğan als auch Putin sind hart im Nehmen. Beide könnten bis 2024 an der Macht bleiben. Das gibt ihnen genug Zeit, den Nahen Osten umzugestalten und dabei zuzusehen, wie sich ein desillusionierter Westen aus der Region zurückzieht. Ihr Zynismus wird belohnt werden. Zusammen mit dem Iran sind sie nun die Platzhirsche, die Achse des Bösen 2.0.“
Türkei entgleitet EU und Nato
Auch Jornal de Negócios kommt zu dem Schluss, dass sich die Türkei immer stärker strategisch weg vom Westen in Richtung Osten orientiert:
„Die Ermordung des russischen Botschafters wird die Annäherung zwischen Russland und der Türkei nicht negativ beeinflussen. Diese Tat aber wird den türkischen Präsidenten Erdoğan noch weiter in Richtung von Chinas übergreifender Vision einer neuen Seidenstraße driften lassen, sowie den wirtschaftlichen Allianzen in Zentralasien und der russischen (und iranischen) Syrien-Strategie näherbringen. Und das heißt auch, weiter weg von EU und der Nato. ... Nun geht es darum, hinter den Schleier der Panik zu schauen, um den wahren Darth Vader zu erkennen. Der Terror ist gerade dabei, die Allianzen zwischen den Staaten und unsere Demokratien zu verändern.“
Karlow war ein Kämpfer für den Weltfrieden
Mit dem russischen Botschafter in der Türkei, Andrej Karlow, hat die Welt einen hervorragenden Diplomaten und wertvollen Menschen verloren, bedauert Habertürk:
„[Karlow] spielte nach dem Absturz [des russischen Kampfjets 2015] eine sehr wichtige Rolle, um die Krise zwischen Ankara und Moskau zu lösen. Beim Thema Syrien war er dafür, mit der Türkei zusammen eine Lösung zu finden. Wenn bei diesem Thema heute Fortschritte gemacht werden, dann ist der Anteil von Botschafter Karlow daran groß. Vor allem am Hilfskorridor, der nach Aleppo eingerichtet wurde. ... Der Attentäter und Polizeibeamte des Sondereinsatzkommandos Mevlüt Mert Altıntaş sagte, er würde die Tat für Aleppo begehen. ... Er war sich nicht einmal bewusst, dass die Person, die er tötete, sich mit Nachdruck dafür einsetzte, in Aleppo Leben zu retten. ... Gestern hat Russland in Ankara einen sehr guten Diplomaten, Türkeifreund und Soldaten für den Weltfrieden verloren.“
Moskau wird Ruhe bewahren
Warum sich Russland kaum zu einem Konflikt mit der Türkei hinreißen lassen dürfte, erläutert Gazeta Wyborcza:
„Derzeit kann Moskau bestimmt keine Auseinandersetzung gebrauchen - von einem Krieg ganz zu schweigen. Die Türkei ist für Russland auch ein Partner in der Anti-Terror-Koalition - und zwar gemeinsam mit dem Iran, der bereits ein Verbündeter oder fast ein Verbündeter im Syrien-Krieg ist. ... Deshalb darf es auch offiziell in den Beziehungen zwischen Moskau und Ankara keine Spannungen geben. Wenn es zur Tötung des Botschafters in einer anderen Hauptstadt gekommen wäre, dann würden in Moskau die Emotionen hochkochen. Und die Kommentare wären bissig. Man würde eine gründliche Untersuchung fordern und drohen. Hier sprechen die Russen und die Türkei mit einer Stimme.“
Selbstjustiz im Namen der Religion nimmt zu
Die türkische Gesellschaft ist besonders anfällig geworden für religiös motivierte Selbstjustiz, beobachtet das liberale Internetportal T24:
„Die Rechtfertigung lautete, Russen würden in Aleppo Muslime töten. Diese Mentalität ist natürlich nicht weit entfernt von einem, der Bomben legt und glaubt, damit Rache zu nehmen. Wo führt das hin, wenn nun jeder auf die Straße geht, um seine 'eigene Gerechtigkeit' sicherzustellen? Gab es in unserer Geschichte ähnliche Fälle? Warum passieren nun Dinge, die es früher nie gegeben hat? Welchen Anteil an dieser Atmosphäre des 'Kampfes mit dem Schwert' hat die seit drei, vier Jahren in der Gesellschaft mit religiösen Motiven geschaffene Spannung? Haben die Beispiele von Dschihad-Kämpfern, die ihre Feinde töten und danach frei bleiben keinen Anteil daran, dass alle zwei Tage ein neuer religiöser Held zutage tritt? Wie weit werden sie damit gehen?“
Türkei versinkt endgültig im Chaos
Der Mord am Botschafter zeigt, wie verwundbar die Türkei unter der Führung Erdoğans geworden ist, analysiert Il Sole 24 Ore:
„Mit einem Pistolenschuss wie 1914 in Sarajevo verlässt die Türkei Europa und tritt dem Nahen Osten bei. Es genügt nicht, einem Staatsstreich entkommen, Autokrat geworden zu sein und die legale Opposition aus dem Weg geräumt zu haben. Es reicht nicht, die Anhänger von Gülen zu beseitigen, Säuberungsaktionen von Tausenden von Polizisten und Militärs durchzuführen, um ein Land unter Kontrolle zu haben. Das ist die Lektion, die der Mord an dem Botschafter Erdoğan erteilt. ... Doch könnten auch die westlichen Führungskräfte eine Lehre daraus ziehen, die bereitwillig zum jetzigen Abdriften der Türkei beigetragen haben. ... Erdoğan hat sich nicht nur im Nahen Osten verstrickt, sondern die einzige Rettung die ihm heute bleibt, ist auf Putin zu vertrauen. Für die Fehler Erdoğans büßt nicht nur die ganze Türkei, sondern auch Europa. Es kann nicht tatenlos zusehen, wie die 16. Weltmacht, mit der es wirtschaftlich eng verbunden ist, im Chaos versinkt.“
Tat wird keine Zwietracht sähen
Die Beziehungen zwischen Russland und der Türkei sind im Moment zu wichtig, als dass das Attentat sie beeinträchtigen könnte, erklärt der Islamwissenschaftler Bojan Tschukow in 24 Chasa:
„Ich vermute, dass der Terrorakt als Vergeltungsschlag nach der Rückeroberung von Aleppo kommt. Wahrscheinlich war Aleppo ein Höhepunkt im Kampf der Extremisten, an dem sie bereit waren, zu allen möglichen Mitteln zu greifen. … Was wird nun folgen? Ich glaube nicht, dass Russland die türkische Regierung für das Attentat verantwortlich machen wird. Im Moment überwiegen zwischen der Türkei und Russland die gemeinsamen Interessen. Daran konnte weder der Abschuss eines russischen Kampfjets durch die Türkei im vergangenen Jahr etwas ändern, noch wird die Ermordung des russischen Botschafters diesen Prozess stoppen.“