Schlappe für Frankreichs traditionelle Parteien
Zum ersten Mal seit Einführung der Direktwahl in Frankreich haben es weder der sozialistische noch der konservative Kandidat in die Stichwahl geschafft. Die traditionellen Parteien haben sich ihren Niedergang allein selbst zuzuschreiben, meinen einige Kommentatoren. Andere sagen einen baldigen Neubeginn für das französische Parteiensystem voraus.
In den Parteien gärt es
Die beiden bislang wichtigsten Parteien haben einfach zu sehr mit sich selbst zu tun, analysiert Le Soir:
„Dass Parteien die Wähler enttäuschen oder diese ihrer überdrüssig werden, liegt oft daran, dass sie sich nicht rechtzeitig erneuert haben oder ihre eingefahrenen Vorstellungen und Strukturen es nicht mehr erlauben, auf aktuelle Herausforderungen zu reagieren. Emmanuel Macron hätte sein frei aus linkem und rechtem Gedankengut zusammengestelltes Programm nie innerhalb der Sozialistischen Partei entwickeln können, die durch innere persönliche und ideologische Streitigkeiten gelähmt ist. Die Republikaner hingegen werden an der Aufeinanderfolge von egozentrischen und auf ihren eigenen Vorteil bedachten Parteiführern zu Grunde gehen, was allein die Presse durch ihre Enthüllungen entlarvt hat. Ideen brauchen organisierte Strukturen, damit sie zu umsetzbarer und angewandter Politik werden.“
Das System formiert sich neu
Warum Macrons Sieg im ersten Wahlgang nicht das Ende des französischen Parteiensystems ist, erklärt der Politologe Alexandru Gussi in der Wochenzeitung Revista 22:
„Parteien sind in der französischen semipräsidentiellen Republik schon immer fragil. ... Das Erdbeben fällt gerade so stark aus, dass die Parteien kurz vor dem kompletten Zusammenbruch stehen. Doch auf ihren Ruinen werden andere entstehen, die politische Landschaft wird sich neu definieren. Die französische Parlamentswahl im Juni wird in dieser Hinsicht entscheidend sein. Wird Macron dann eine große Koalition bilden können? Für den zweiten Wahlgang wird es sie geben, doch wenn es ums Regieren geht, wird heftig und einzeln um jeden Platz in der Nationalversammlung gerungen.“
Konservative und Sozialisten sind selbst schuld
Frankreichs traditionelle Parteien haben die Quittung dafür erhalten, dass sie sich aus Machtkalkül bis zur Unkenntlichkeit einander annäherten, kritisiert Duma:
„Die Konservativen, die sich mal Gaullisten nannten, haben nichts mehr gemein mit den Prinzipien, die ihnen der Gründer der V. Republik, General de Gaulle, vererbt hat. Die Linken wiederum haben nach und nach der Sozialpolitik den Rücken gekehrt, bis sie unter Hollande selbst traditionelle soziale Errungenschaften aufgegeben haben, die als Grundfesten des französischen Sozialstaats galten und wegen denen Frankreich bis heute als eines der Länder mit der größten sozialen Gerechtigkeit in Europa gilt. Die Symbiose zum Zweck des Machterhalts hat die Traditionsparteien zerstört. Die Frucht ihrer Liebe, das nebulöse Phänomen Macron, hat sie letztlich beide eingeschläfert.“
In der Mitte blieb nur Macron
Statt an den Rändern des politischen Spektrums um Stimmen zu werben, sollten sich die traditionellen Parteien wieder auf die Mitte besinnen, rät ABC nach Macrons Erfolg:
„Die traditionellen Parteien Europas - einschließlich Spaniens - täten gut daran, das Ergebnis des ersten Durchgangs der französischen Präsidentschaftswahl genau zu analysieren. Die Wähler haben mit Emmanuel Macron keine richtige Partei, sondern eine eher marginal erscheinende Bewegung unterstützt. Sie sahen darin das beste Modell, um Extremisten und Demagogen der extremen Linken und der extremen Rechten aufzuhalten. ... Die Republikaner begingen den Fehler, mit Zugeständnissen an die Radikalen dem Front National Wähler abwerben zu wollen. Und die Sozialisten taten dasselbe mit einem möglichst linken Kandidaten, der Mélenchon Stimmen streitig machen sollte. ... Die Wähler haben stattdessen auf jemanden gesetzt, der für Mitte und Flexibilität steht.“
Macron braucht das System
Die Wahl brachte zwar eine klare Niederlage der traditionellen politischen Elite, doch Macron und die von ihm Geschlagenen brauchen einander, ahnt Dennik N:
„Die Verluste der traditionellen Parteien können Macron nicht gefallen. Er ist kein Antisystem-Politiker. Ihm geht es darum, das System zu reformieren, nicht darum, es zu zerstören. Für die Verwirklichung seiner Politik braucht er eine ausreichend starke und stabile Regierung und eine Parlamentsmehrheit, mit der er zusammenarbeiten kann. ... Die anstehende Parlamentswahl kann ganz anders als die Präsidentschaftswahl laufen und den traditionellen Parteien die Chance zur Rückkehr geben. Macron wird ihnen dafür die Daumen drücken. Diese Parteien müssen ihrerseits den Schulterschluss mit Macron suchen, um die Extremisten zu stoppen und das demokratische System zu bewahren. Dass sie Macron vor der Stichwahl ihre Unterstützung zusichern, zeigt, dass sie ihren Selbsterhaltungstrieb noch nicht verloren haben.“
Handlungsunfähigkeit ist programmiert
Egal, wer die Stichwahl gewinnt, Frankreichs V. Republik ist am Ende, urteilt Der Standard:
„Auch wenn Le Pen nicht in den Élysée-Palast einziehen dürfte, sind die Ursachen, die ihr und all den anderen Populisten in Europa so viel Auftrieb verleihen, keineswegs überwunden. ... Das ganze Verfassungssystem beruht auf der starken Stellung des Staatspräsidenten. Doch seine Legitimität wird nun von Anfang an schwach sein: Der Bestplatzierte, Emmanuel Macron, erhielt im ersten Wahlgang nicht einmal ein Viertel der Stimmen - bedeutend weniger als vor fünf Jahren François Hollande, dessen Amtszeit ein einziger Kreuzweg war. Macron wird zudem dem Vorwurf ausgesetzt sein, den zweiten Wahlgang nur dank eines republikanischen Schulterschlusses gegen Le Pen, so wie Jacques Chirac 2002, fast 'automatisch' gewonnen zu haben. Doch schon Chirac war danach kaum mehr handlungsfähig.“
Eine französische Revolution
Von einer historischen Wahl spricht Le Soir:
„Ein noch nie da gewesenes Duell und einen weltanschaulichen Clash - das haben sich die Franzosen für den zweiten Wahlgang der Präsidentschaftswahlen ausgesucht. Diesen Sonntag haben sie ihre Revolution gemacht, indem sie die traditionellen Politiker und Parteien hinweggefegt haben, im rechten wie im linken politischen Spektrum, um zwei Persönlichkeiten gegeneinander antreten zu lassen, die außerhalb des Systems stehen. ... Die beiden großen Parteien, die über Jahrzehnte hinweg das Rückgrat der französischen Politik ausgemacht haben, PS und Les Républicains, sind raus aus dem Spiel. ... Historisch ist die Wahl auch wegen der beiden Kandidaten: ein junger Mann (39 Jahre!) ohne Erfahrung in der Politik, ohne Partei, der sich geweigert hat, sich zwischen sozialistischem und konservativem Lager zu entscheiden. ... Ihm gegenüber steht eine Frau, die die Werte und das Erbe der Rechtsextremen verkörpert, und die als Feindin der Demokratie gilt.“
Etablierte Parteien waren unfähig
Die Wahlsieger Macron und Le Pen haben davon profitiert, dass die etablierten Parteien keine Antworten auf die politischen Probleme Frankreichs haben, urteilt der Kurier:
„Überall in der Grande Nation herrscht Unsicherheit. Emmanuel Macron, früher Banker, dann sozialistischer Minister, hat davon am meisten profitiert. Seine Bewegung 'En Marche!' zeigt noch nicht wirklich eine politische Richtung, aber sein junges Gesicht gibt wenigstens Hoffnung. Wobei nicht die Korruption der alten Politikerklasse ausschlaggebend für die Schwäche der traditionellen Parteien war – den Griff in die Staatskasse verzeihen die Franzosen eher als andere –, es ist die Unfähigkeit, mit den Problemen des Landes fertig zu werden: Die Arbeitslosigkeit ist in der Regierungszeit von François Hollande zwar nicht gestiegen, aber bei rund 10 Prozent hoch geblieben. Ohne Aussicht auf Verbesserung. Und fast ein Viertel der Jugendlichen ist ohne Arbeit und ohne Zukunft.“
Das geht in die Politik-Lehrbücher ein
Le Figaro bedauert das Wahlergebnis insbesondere einer Partei:
„Die konservative Partei, die fünf Jahre lang die Sozialisten in den Wahlen schlecht aussehen ließ, die konservative Partei, deren Ideen und Werte noch nie so tief im ganzen Land verankert waren und noch nie so stark von der Mehrheit geteilt wurden, diese konservative Partei, prädestiniert für den Sieg, wurde gestern einfach ausgemerzt. Obwohl der Wunsch nach einem Politikwechsel noch nie so stark war wie nach dieser fünfjährigen Legislaturperiode, die alle einstimmig für grässlich halten, wird sie zum ersten Mal in ihrer Geschichte nicht im zweiten Wahlgang der Präsidentschaftswahl repräsentiert sein. Es ist ein verblüffender Zaubertrick, der es verdient hätte, in den Ausbildungsstätten für Politiker unterrichtet zu werden: Emmanuel Macron wird mit großer Sicherheit der nächste Präsident Frankreichs.“
Vorwahlen gingen nach hinten los
Mit der Entscheidung, Vorwahlen zur Bestimmung des Präsidentschaftskandidaten durchzuführen, haben sich die Konservativen und die Sozialisten keinen Gefallen getan, analysiert El Mundo:
„Beide traditionelle Parteien haben teuer bezahlt für ihr falsches Verständnis der direkten Demokratie und den deswegen offen abgehaltenen parteiinternen Kandidatenwahlen, die zu einem wahren Fiasko führten. In beiden Fällen haben Parteimitglieder und Sympathisanten auf selbstmörderische Art die jeweils schlechtesten Anführer gewählt, die zur Auswahl standen. Die unerwarteten Niederlagen von Valls bei den Sozialisten sowie Sarkozy und Juppé bei den Republikanern zwangen beide Parteien dazu, mit schlechteren Kandidaten anzutreten. ... In zwei Wochen können die Franzosen mit ihrer Stimme Marine Le Pen stoppen, aber Europa bleibt vom Glaubwürdigkeitsverlust der Politik bedroht, der den Populismus anheizt und die herkömmlichen Parteien zerstört.“