Russland im WM-Taumel - folgt das böse Erwachen?
Russland ist besser als jeder WM-Gastgeber zuvor in das Turnier gestartet. Jubelnde Fans und Autokorsos bestimmten das Bild in vielen Städten des Landes, nachdem auch das zweite Spiel gegen Ägypten gewonnen war. Kommentatoren prophezeien jedoch, dass der Freudentaumel über die Leistungen des Teams bald in politischen Verdruss umschlagen wird.
WM-Euphorie ist bald verflogen
Vedomosti hält die ausgelassene WM-Stimmung der Russen für ein aufgesetztes, vorübergehendes Phänomen:
„Wir tun so, als könnten alle bei uns zu Tausenden mit Flaggen durch die Straßen ziehen und dabei skandieren und schreien, was sie wollen. ... Wir freuen uns über die britischen Fans, dabei sind unsere Beziehungen zu London miserabel. So wie zum gesamten Westen. ... Wir tun sogar so, als hätte man uns nicht jahrelang mit Berichten über das unter der Migrantenlast sterbende 'Gayropa' und das janusköpfige Amerika abgefüllt. Heute sind wir, werte Gäste, gastfreundlich, doch morgen reisen Sie ab und wir erwachen mit einem Kater im wörtlichen und übertragenen Sinne. Uff! Und dann müssen wir auf der Straße nicht mehr lächeln und niemandem mehr helfen, wir werden wieder Polizisten aus dem Weg gehen und jede Menschenansammlung meiden wie der Teufel das Weihwasser. Und die Ausländer fürchten.“
Die Pechsträhne kehrt zurück
Auch der norwegisch-russische Politologe Pawel Bajew sagt in Nowoje Wremja ein unsanftes Erwachen nach der WM voraus:
„Selbst wenn keine organisatorischen Misserfolge oder Terroranschläge passieren, wird die Fußballweltmeisterschaft Mitte Juli zu Ende sein und im August wird die Pechsträhne wieder zurückkehren. Das ungemein teure sportliche Ereignis bringt Russland ohne Zweifel Massen an unbändigen Anhängern. Doch die unzufriedenen alternden Arbeiter, die ihre Renten los sind, und die ebenfalls tief beunruhigten Nachbarn, die sehr gut die Neigungen Russlands kennen, gegen die internationale Ordnung zu verstoßen, haben eine andere Sichtweise.“
Putin gehört vor Gericht statt ins Stadion
Russland hat die Fußball-WM nicht verdient, davon ist Latvijas Avize überzeugt:
„Stattdessen sollte das Land auf der Anklagebank des Internationalen Gerichtshofs sitzen, weil es Verantwortung für 'gewöhnliche' Morde, Vergiftungen, den Krieg im Donbass, die Bombardierung von Syrien und den Absturz der MH17 trägt. Durch diese kriminellen Handlungen wurden Tausende von Menschen ermordet, aber das reichte nicht für einen Boykott der WM. ... Alles geht seinen gewohnten Gang - die Fußballweltmeisterschaft und die Verbrechen Russlands. Russlands Big Boss ist jetzt gastfreundlich, ein echter Sportsfreund, der Anerkennung bekommt und die Siege seiner Mannschaft gegen Saudi-Arabien und Ägypten genießen kann. Morgen kann er dann an die Zeit vor der WM anknüpfen.“
Endlich ein Grund zum bedingungslosen Feiern
Republic ermuntert seine Leser, das Fußball-Fest nun einfach zu genießen:
„Alles ist perfekt! Ohne Ironie. In elf Städten läuft eine Riesenshow mit zehntausenden ausländischen Gästen. Angesichts der aktuellen politischen und sportlichen Umstände ist nur schwer zu sagen, wann wieder so viel Volk aus so einem schönen Grund zu uns kommen wird. ... Zahlreiche Umfragen und Forschungen haben gezeigt, dass die Bewohner eines Landes, in dem Olympische Spiele oder Fußball-WMs stattfinden, noch für längere Zeit nachweislich glücklicher bleiben. … Denn in ihrer Heimat ist Karneval und man kann sich ihm unmöglich entziehen. Deshalb der beste Rat für diesen Monat: Lassen Sie sich von diesem Karneval mitreißen! Und was dann? Darüber denken wir später nach.“
Party im brennenden Haus
Die russische Umweltaktivistin Jevgenia Tschirikova kritisiert im Interview mit Eesti Päevaleht, dass die WM auf Kosten der russischen Bevölkerung veranstaltet wird:
„Kein Zweifel, dass die russischen Machthaber jetzt 115 Prozent geben und eine großartige Show organisieren werden. Eine andere Frage ist, welchen Preis die Russen dafür zahlen. Denn gleichzeitig werden Krankenhäuser und Schulen geschlossen, mancherorts die Züge eingestellt. ... Es ist selbstverständlich, dem Volk das letzte Hemd auszuziehen und eine pompöse Show zu organisieren. Für die einen das Fest, für die anderen ein Loch in der Tasche. Es wird verzweifelt nach Geld gesucht, um große Löcher im Staatshaushalt zu stopfen. Was tun mit den riesigen Waldbränden, für deren Bekämpfung es kein Geld gibt? Das Haus hat schon angefangen zu brennen, aber das Geld wird ausgegeben, um bei den Gästen einen guten Eindruck zu machen.“
Fette Aufträge für Putins Freunde
Wladimir Putin hat darauf geachtet, dass auf keinen Fall nachweisbar ist, ob Russland den Zuschlag für die Austragung der Fußball-WM mit Hilfe von Korruption bekommen hat, bemerkt hvg:
„Als die Untersuchung begann, wurden die Computer, die für die Ausschreibung benutzt worden waren, verschrottet. Briefe und Dokumente gingen aus Versehen verloren. Die Kosten der Weltmeisterschaft blieben laut offiziellen Angaben bei elf Milliarden Dollar stehen. Das bedeutet aber nicht, dass die fetten Aufträge nicht an kremlnahe Oligarchen gingen und keine funkelnden Arenen in Städten gebaut wurden, in denen es nach der WM problematisch sein wird, sie weiter zu betreiben.“
Mit so einem Gastgeber hat niemand gerechnet
La Stampa erinnert daran, in welchem Zustand die Beziehungen zu Moskau waren, als die Entscheidung für die WM in Russland fiel:
„Weit entfernt scheint das Jahr 2010, als Putin die Chance bekam, Gastgeber der Weltmeisterschaft 2018 zu sein. Präsident Obama wollte gute Beziehungen zu Moskau, ... der Krieg in der Ukraine und die Besetzung der Krim isolierten das Land nicht durch schwere Wirtschaftssanktionen. Noch war in Salisbury nicht der ehemalige Agent Sergej Skripal mit seiner Tochter vergiftet worden, noch war die Passagiermaschine MH17 nicht in einem umkämpften Gebiet über der Ostukraine abgeschossen worden, als sie pro-russische Milizen überflog. Putin war weder dem syrischen Diktator Assad zur Seite gesprungen, noch waren seine Freunde, die Oligarchen, der illegalen Einmischung in den Wahlkampf in Amerika 2016 bezichtigt worden.“
Parallelen zu Hitlers Propaganda-Spielen
Dass sich ein autokratischer Herrscher wie Wladimir Putin bei einer Fußball-WM als Gastgeber inszenieren darf, erinnert Irish Examiner an Olympia 1936 in Berlin:
„Adolf Hitler sah die damaligen Spiele als Umarmung durch die Friedensstifter, als Geste der Freundschaft. Nur drei Jahre später verriet er diese Ideale. Putin ist seit 18 Jahren unbestrittener Führer Russlands. Er tritt die Werte, auf denen unsere Welt aufbaut, schon seit mehr als drei Jahren mit Füßen. ... Wenn Putin am Donnerstag sein Permafrost-Lächeln aufsetzt, wird er wissen, dass der eigentliche Wettstreit schon vorbei ist und er diesen gewonnen hat. ... Wieder einmal könnte uns unsere bewusste Gleichgültigkeit - wie damals nach den Berliner Spielen - teuer zu stehen kommen.“
Russland von seiner besten Seite kennenlernen
Auch wenn einem Putin und sein Regime unsympathisch sind, sollte man es sich auf keinen Fall nehmen lassen, zur WM nach Russland zu reisen, meint die Süddeutsche Zeitung:
„Zum einen darf man das Regime niemals gleichsetzen mit den Menschen, die in diesem Land leben. Wer sich einmal nach Russland wagt, wird schon bei der Einreise am Flughafen feststellen, dass es dort deutlich angenehmer zugeht als etwa in den USA. Niemand nimmt einen ins Kreuzverhör, kurze Visumkontrolle, und schönen Tag noch! Gerade jetzt, anlässlich der Fußball-WM, bietet sich die Chance, das im Westen oft sehr negative, medial geprägte Russlandbild mal vor Ort abzugleichen. Viele Russinnen und Russen freuen sich auf das Fußballfest, sie werden sich von ihrer besten Seite zeigen. Wer unvoreingenommen durch das Land reist, wird überall auf Interesse, Hilfsbereitschaft und große Gastfreundschaft stoßen.“
Diktaturen schießen keine Tore
Große fußballerische Leistungen erwartet The Economist nicht vom WM-Gastgeber Russland:
„Autokratische Regime wie China und Russland können Leichtathleten schonungslos trainieren. Die Olympischen Spiele wirken ja in der Tat zeitweise wie ein Schönheitswettbewerb für Diktaturen. Im Fußball sind diese jedoch erschreckend schwach, denn dieser Sport verlangt mehr Kreativität und Flair. Der Unterschied zwischen dem früheren Ost- und Westdeutschland ist frappant. Der Osten trainierte muskelbepackte Kugelstoßer, der Westen überragende Freistoßschützen. Nur vier Länder, die von der NGO Freedom House als 'nicht frei' eingestuft wurden, haben sich für die diesjährige Weltmeisterschaft qualifiziert - und keines von ihnen dürfte darin weit kommen.“
Propagandasieg verhindern
Die WM-Zuschauer sollten nicht vergessen, wie die politischen Zustände in Russland sind, fordert Politiken:
„Politiker, Journalisten und Bürgerinitiativen, die sich gegen Putin aussprechen, werden bedroht, geschlagen, inhaftiert oder ermordet. ... Man sollte meinen, Politik und Sport sind verschiedene Dinge, aber man lügt sich selbst in die Tasche, wenn man glaubt, dass die Diktatoren und Unterdrücker dieser Welt das genauso sehen. Ein autoritärer Führer wie Putin freut sich darüber, dass die Welt jetzt zu ihm kommt. Wir müssen darauf antworten, indem wir uns selbst und gegenseitig daran erinnern, wie Russland in der Realität aussieht - abseits der wohlgepflegten Grasbahnen und potemkinschen Kulissen.“