Rentenreform als Zünder: Neue Proteste in Russland
In Russland ebbt der Protest gegen die geplante Rentenreform nicht ab. Am Wochenende gingen in mehreren Städten tausende Menschen trotz Verbots auf die Straßen. Die Polizei nahm mehrere hundert Demonstranten fest. Der inhaftierte Kremlkritiker Alexej Nawalny hatte für den Samstag, an dem Regionalwahlen stattfanden, zu Protesten aufgerufen. Braut sich in Russland etwas zusammen?
Schnell, motiviert und furchtlos
Die Jugend nimmt den Protest in ihre Hand, beobachtet der Journalist Anton Orech in Echo Moskwy:
„Die Zahl der Protestierenden geht zurück, doch die Aktionen werden immer brutaler niedergeschlagen. ... Damit wächst das Risiko, den Tag im Krankenhaus oder hinter Gittern zu beenden - oder beides. Die Proteste verwandeln sich in Jugendaktionen, wo man schnell denken, schnell rennen und nichts fürchten muss. ... Die Jugend ist viel motivierter als die Polizei. Der Protest kommt von Herzen, das Auseinandertreiben wird von Berufs wegen erledigt. Je höher die Motivation, desto mobiler und geschickter werden die Proteste, während die Polizei hart, aber dumm und unbeweglich wirkt. Mir scheint, die Protestbewegung wird sich weiter radikalisieren und Hunderte junger Demonstranten werden an die Stelle Tausender bislang friedlicher Bürger mit ihren Luftballons und lustigen Slogans treten.“
Für Putin brandgefährlich
Dass die Proteste in Russland eine neue Dimension erreichen, glaubt die taz:
„[S]eit Putin das Renteneintrittsalter herauf setzte, gerät auch er in den Abwärtssog. ... Die sozialen Proteste gegen die Erhöhung des Rentenalters stellen für das System eine größere Gefahr dar als jegliche Kritik demokratischer Defizite aus den Reihen der überschaubaren Opposition. Zumal der Herausforderer Putins, Alexei Nawalny, diese Proteste koordiniert. Die Verquickung von Jugend- und Sozialprotest hat eine neue Qualität erreicht. Mit rund tausend Festnahmen fackelte der Staat deshalb auch nicht lange. 'Zahlt Renten, statt Schlösser zu bauen', stand auf einem Transparent. Da ist vom Eingemachten die Rede, nicht von Teilhabe.“
Schlecht gemacht, aber prinzipiell richtig
Die Ex-Präsidentschaftskandidatin Xenia Sobtschak erklärt in einem von Echo Moskwy übernommenen Blogbeitrag, warum sie die Änderung für richtig hält, aber nicht für eine kluge Reform:
„Momentan gibt es 35 Millionen Rentner, in den 2040er-Jahren werden es bei unverändertem Rentenalter 55 Millionen sein. Die Zahl der Arbeitenden schrumpft dabei etwas. Wir erhöhen die Altersgrenze also entweder jetzt stufenweise oder in fünf bis zehn Jahren auf einen Schlag. Es gibt keine realen Alternativen! ... Meine Kritik liegt darin, dass ich keine in sich schlüssige Reform sehe, sondern nur eine leider unvermeidliche Maßnahme. ... Warum gibt es keine breite Erörterung mit Experten über die Wege zur Problemlösung? Und wenn es Ihr Traum ist, schnellstmöglich, also etwa mit 55 Jahren, in Rente zu gehen, dann denken Sie doch mal nach, was mit ihrem Leben nicht stimmt, dass Sie Ihre Arbeit so wenig lieben.“
Zynischer Schachzug der Staatsgewalt
Für die taz ist die Wut über die russische Rentenreform hingegen nur verständlich:
„Keinem Menschen, der noch halbwegs bei Verstand ist, leuchtet es ein, warum sich jemand nach jahrzehntelanger harter Arbeit noch länger kaputt schuften soll, und das für ein Altersruhegeld, das oft nicht reicht, um in Würde leben und altern zu können. Was jedoch noch schwerer wiegt und nur ein weiterer Beleg für den Zynismus der Staatsmacht ist: Viele Männer, die perspektivisch mit 65 Jahren in Rente gehen sollen, werden ihren wohl verdienten Ruhestand allenfalls noch auf dem Friedhof 'genießen' können. Denn ihre durchschnittliche Lebenserwartung liegt vor allem in den Regionen der Russischen Föderation gerade einmal bei 62 Jahren.“