Streit um Erinnerungskultur in Litauen
Litauen debattiert über die Entfernung einer Gedenktafel an Jonas Noreika, der als Widerstandskämpfer gegen das Sowjetregime verehrt wird. Da Noreika während der Nazi-Besatzung als Bezirksleiter Befehle zur Einrichtung von Ghettos und der Beschlagnahmung des Vermögens von Juden unterzeichnete, halten Kommentatoren eine Verehrung für unangemessen.
Weder Held noch Bestie
Eine Verehrung als Held hat Noreika jedenfalls nicht verdient, argumentiert Paulius Gritėnas auf dem Online-Portal Delfi.lt:
„Noreika hat diese Entscheidung [die Papiere zu unterzeichnen] getroffen und damit historische Verantwortung auf sich genommen. Ich vermute, er hat tief im Herzen die Tragik der Situation verstanden. Dennoch erlaubt seine Teilnahme an den Handlungen der Besatzungsmacht gegen die jüdischen Mitbürger nicht, ihn als Helden oder auch tragischen Helden zu bewerten. Noreika war weder ein Held, noch eine Bestie. Er war ein Mensch, der versucht hat, sich durch die komplizierten historischen Geschehnisse zu manövrieren.“
Mitläufer, Mittäter und Täter
Die unterschiedlichen Kriterien in Litauen und im Westen für die Bemessung persönlicher Schuld während des Nationalsozialismus analysiert der Historiker Alvydas Nikžentaitis auf 15min:
„Das Verständnis der Holocaust-Täterschaft scheint sich in Litauen derzeit auf dem Niveau zu befinden, wie es in der westlichen Welt in den 70er Jahren der Fall war. Das Problem der litauischen Holocaust-Wahrnehmung liegt darin, dass man nur denjenigen für einen Judenmörder hält, der direkt an der Tötung der Menschen beteiligt war. Im Westen hingegen umfasst der Begriff des Holocaust-Täters auch all diejenigen, die dabei halfen oder zur Schaffung der Bedingungen für die Ermordung beitrugen. Die Tätigkeit von Jonas Noreika wird in Litauen aufgrund der unterschiedlichen Interpretationsmodelle nicht für ein Verbrechen gegen die Menschheit gehalten. Im Westen hingegen gilt er als Verbrecher.“