An dieser Macht kommt niemand vorbei
Der Westen sollte die Militärparade zum Anlass nehmen, endlich umzudenken, meint Karar:
„Zweifelsohne hat China der Welt seine Macht demonstriert. Hoffen wir, die USA begreifen nach der Parade, dass das heutige China nicht mehr das China von vor 70 Jahren, ja nicht einmal das von vor 10 Jahren ist - sondern ein Staat, den man in seiner militärischen und wirtschaftlichen Stärke ernst nehmen und mit dem man zusammenarbeiten sollte. China hat sich tatsächlich gewandelt. Nach den Reformen von 1978 wuchs seine Wirtschaft jährlich durchschnittlich um sechs Prozent. Ab 2010 besaß China die zweitgrößte Wirtschaft der Welt, seit 2014 nimmt es einen Platz in der ersten Reihe ein. Der Reichtum ist zwar nicht gerade gerecht verteilt, aber große Teile der Bevölkerung haben stark vom Aufschwung profitiert.“
Wo China bislang gescheitert ist
Wo es in China überall kriselt, benennt Iswestija:
„Es hakt nicht nur bei der 'Eine Familie, ein Kind'-Politik, sondern auch beim Prinzip 'Ein Staat, zwei Systeme'. Bestes Beispiel dafür sind die jüngsten Ereignisse in Hongkong, die auch die Beziehungen Pekings zu Taiwan geschädigt haben. Selbst wenn die Volksrepublik China erfolgreich versucht, die verbliebenen Alliierten Taipehs auf seine Seite zu ziehen, verliert es im Kampf um die Herzen und das Vertrauen der Bewohner Taiwans und Hongkongs. ... Doch die aktuelle Herausforderung für China liegt im Innern. In den letzten Jahren ist dort eine Generation mit einem deutlich bürgerlichen Bewusstsein und einem wachsenden Wunsch nach Demokratisierung herangewachsen. Diese Forderung der Gesellschaft sollte die Staatsführung nicht mehr lange ignorieren.“
Entwicklung ohne Demokratie
Chinas atemberaubender Werdegang ist ebenso beeindruckend wie beängstigend, urteilt El País:
„In wenigen Jahrzehnten ist aus dem unterentwickelten und international bedeutungslosen Land eine Nation von strategischem Gewicht und mit einer Spitzenposition in Forschung und Entwicklung geworden. Bei der weltweiten technologischen Revolution wird es eine führende Rolle spielen. ... Aber dieses Modell hat viele dunkle Seiten: Ein System eiserner ideologischer Kontrolle mit schweren Menschenrechtsverletzungen im Inneren und einer Außenpolitik der vollendeten Tatsachen und unterschwelligen Drohungen. ... Und Peking baut ein Kontrollsystem seiner Bürger auf, das eher an die düstere Zukunftsvision eines Romans als an eine Weltmacht erinnert. 70 Jahre lang hat China Effizienz bewiesen, ohne dabei das geringste Anzeichen demokratischer Bemühungen zu zeigen.“
Andersartigkeit als Denkanstoß nehmen
Statt China zu verteufeln, sollte sich Europa mit den tiefgreifenden Unterschieden beschäftigen, fordert Soziologe Mauro Magatti in Corriere della Sera:
„Der chinesische Weg muss uns zum Nachdenken anregen. Im Namen einer gesellschaftlichen Harmonie, die als Bedingung für Wohlstand gesehen wird, scheint die Regierung den Traum des britischen Philosophen Jeremy Bentham zu verwirklichen, der 1791 eine Gefängnis-Fabrik mit einem einzigen Wachmann erdachte. ... Es geht nicht darum, China und seine Kultur zu verteufeln. ... Erstmals seit dem Beginn der Moderne muss sich der Westen mit einer anderen Kultur messen, die in der Lage war, sich moderne Instrumente anzueignen. Die Auseinandersetzung mit China kann und muss für den Westen und für Europa im Besonderen zur Chance werden, den eigentlichen Sinn der eigenen kulturellen Prägung neu zu beleben.“
Eine erschreckende Bilanz
Keinen Anlass zum Feiern kann Jyllands-Posten erkennen:
„In vielen internationalen Rankings - Globalisierung, Korruption, Gleichstellung, wirtschaftliche Freiheit, Menschenrechte usw. - rangiert China sehr weit hinten, ein Spiegel der grundlegenden Verachtung der Menschen, die alle kommunistischen Diktaturen kennzeichnet. ... Dass China der weltweit größte Verursacher von Treibhausgasen ist, unterstreicht, dass das Wirtschaftswachstum und die Armutsbekämpfung extreme Folgen für die Klimaveränderung haben. ... Präsident Trump hat handelspolitisch Chinas stark wettbewerbsverzerrendes Handeln gebremst, aber es sind weitere klare Maßnahmen notwendig, wenn Peking gezwungen werden soll, sich an dieselben Spielregeln zu halten, die für andere große Volkswirtschaften gelten.“
Peking schiebt Probleme auf die lange Bank
Um zur echten Supermacht zu werden, muss China noch einige Hürden nehmen, mahnt die Sinologin und Filmemacherin Catherine Vuylsteke in De Standaard:
„Die Frage ist, wie viel man unter den Teppich kehren kann, bevor das Folgen haben wird. Geschichtsverfälschung, systematische nationalistische Propaganda und ein System sozialer Kredite werden China vorläufig nicht schaden. Aber das kann sich ändern. Außerdem stehen große Probleme an: Was tut man mit Taiwan, das tagtäglich beweist, dass die chinesische Kultur perfekt kompatibel ist mit Demokratie? ... Und wie geht es weiter mit Hongkong, das seit Monaten zeigt, was der Export des chinesischen Modells konkret für die freie Welt bedeutet? Die Antworten von Peking auf diese Herausforderungen werden zeigen, ob es sich eine moderne, emanzipierte und verantwortungsvolle Supermacht nennen darf.“
Wohlstand betäubt Freiheitsdrang nicht ewig
Das chinesische Volk hat sich nicht erhoben, wie Mao Zedong es 1949 verkündet hatte, klagt Politologe Jean-Philippe Béja in seinem Blog bei Mediapart:
„Angesichts der unbestreitbaren Verbesserung des Lebensstandards erhebt sich die Bevölkerung nicht gegen die neue Macht und erträgt die immer invasivere Propaganda zugunsten des neuen Manns am Ruder. Was [Friedensnobelpreisträger] Liu Xiaobo 'Philosophie des Schweins' nannte, der zufolge der materielle Wohlstand die Bedürfnisse nach Freiheit erstickt, dominiert heute mehr denn je. Ist ein Volk, das dieser Philosophie unterworfen ist, wirklich auf den Beinen? Wie lange hält diese Narkose noch an? Das Beispiel der Revolte der Hongkonger Bevölkerung zeigt, dass für Diktatoren nichts auf ewig gesichert ist.“