100 Jahre russisch-estnischer Vertrag von Tartu
Estland beging am Wochenende in großem Stil die Hundertjahrfeier des Vertrags von Tartu, in dem mit Sowjetrussland die Unabhängigkeit vereinbart worden war. Allerdings entsprechen die heutigen Staatsgrenzen nicht dem damals vereinbarten Verlauf - was bis heute zu Diskussionen in Estland und Russland führt. Die Uneinigkeit spiegelt sich in den Medien beider Länder wider.
Moskau leugnet Grundlage estnischer Staatlichkeit
Das russische Außenministerium ließ zu den Feierlichkeiten verlauten, dass der Frieden von Tartu nicht gelte und Estland freiwillig der Sowjetunion beigetreten sei. Sergei Metlev vom Estonian Institute of Historical Memory erklärt dazu in Eesti Päevaleht:
„Natürlich ist es nicht leicht zuzugeben, dass Sowjetrussland als Vorgänger der Sowjetunion den Krieg verloren hatte und ein kleines demokratisches Land anerkennen musste, das man seit dem 18. Jahrhundert als Eigentum betrachtet hatte. Da die Russische Föderation heute rechtlicher Nachfolger der Sowjetunion ist, gehört auch der Frieden von Tartu zu der rechtlichen und politischen Realität von Russland. ... Illusionen darf man sich keine machen - erst eine andere russische Macht wird den Frieden von Tartu mit allen Folgen anerkennen.“
Uraltverträge in der Schublade lassen
Ria Novosti warnt estnische Politiker davor, mit Forderungen nach einem neuen Grenzverlauf die Büchse der Pandora zu öffnen:
„Wenn man schon ein längst ungültiges, 100 Jahre altes Dokument hervorzieht, warum gräbt man dann nicht noch tiefer? Etwa bis zum Friedensvertrag von Nystadt von 1721, nach welchem Russland ganz legal das komplette heutige Gebiet Estlands und einen Teil Lettlands (samt Riga) bekam? … Wenn man sich schon an die Grenzen erinnert, die nach den Konflikten 1920 gezogen wurden, so müssten die Litauer Vilnius und die Ukrainer Lviv an Polen abgeben. Und wenn man auf die Nachkriegsgrenzen pfeift, dann ginge ganz Westpolen an Deutschland. Doch seltsam, keines der Länder, die so gerne historische Ereignisse des 20. Jahrhunderts umdeuten, verliert darüber auch nur ein Wort.“
Nicht mal die Regierung ist sich einig
Die Feierlichkeiten haben deutlich gemacht, welch unterschiedliche Auffassungen zur Außenpolitik es in Estland gibt, schreibt Toomas Sildam auf ERR Online:
„Die Präsidentin sagt sinngemäß, dass die Gebiete hinter Narwa [estnisch-russischer Grenzfluss] und um die Stadt Petschory, die laut Tartuer Friedensvertrag Estland gehören sollten, aber nach dem 2. Weltkrieg in die UdSSR eingegliedert wurden, Teile Russlands bleiben sollen und es keinen Sinn hat, sie zurückzuverlangen. ... Ganz anders der Parlamentspräsident Henn Põlluaas, ein Mitglied der [rechtsextremen] Regierungspartei EKRE. Er sagte am Sonntag, man dürfe nicht dem Wunsch mancher Kreise nachgeben, freiwillig und umsonst Gebiete abzugeben, die reich an Bodenschätzen sind und rechtlich Estland gehören. ... Vor kurzem hat Premierminister Ratas in ETV sogar zugegeben, dass es in der Regierung keinen Konsens um den Grenzvertrag gibt.“