Sexvideo-Affäre um Pariser Bürgermeisterkandidat
Benjamin Griveaux, Macrons Kandidat für die Pariser Bürgermeisterwahl, ist am Freitag von seiner Kandidatur zurückgetreten. Zuvor hatte im Internet ein anzügliches Video die Runde gemacht, das Griveaux angeblich an seine Geliebte geschickt haben soll. Griveaux erstattete Anzeige gegen den russischen Aktionskünstler Piotr Pawlenski, der das Video veröffentlichte. Die Presse diskutiert nun, worin der Skandal besteht.
Frankreich inzwischen prüde wie die USA
Der ehemalige Paris-Korrespondent Marek Ostrowski beobachtet in Polityka, dass Frankreich sich den USA angenähert hat:
„Vor einigen Jahren traute ganz Frankreich seinen Augen nicht, als das Amtsenthebungsverfahren gegen Bill Clinton lief. Der amerikanische Präsident wurde im Senat gequält, nicht weil er einen Krieg oder eine Wirtschaftskrise verursacht hatte, sondern weil er über seine kurze Romanze mit einer Praktikantin gelogen hatte. In Frankreich verlor ein Politiker zu dieser Zeit seine Popularität oder sogar seinen guten Ruf, nicht wegen einer Romanze, sondern wegen des Fehlens einer Romanze, weil dann der Verdacht aufkam, dass ihm Gefühle fehlten oder er einfach nicht gut genug sei. Daher drängt sich heute die Vermutung auf, dass Frankreich sich verändert hat, dass es zu einer Amerikanisierung der politischen Gepflogenheiten gekommen ist.“
Für Politiker gelten andere Regeln
Le Point findet, Politiker sollten höhere moralische Standards haben als die Durchschnittsbürger:
„Die Verantwortungsträger in der Politik, die immer so beflissen sind, wie ein Durchschnittsbürger zu erscheinen, ein ganz normaler Mensch, vergessen, dass sie sich nicht unbedingt über ihre Mitmenschen stellen sollten, aber ihnen doch immer wieder erlauben und dabei helfen sollten, das Niveau anzuheben. Wenn die Politik ihre Erhabenheit verliert, hält die Demokratie nicht mehr lange durch. ... Das ist die Krise, die wir selbstgefällig oder auch unbewusst nähren, angetrieben von Mode, Geld, Angst, der Feigheit unserer Führungsspitze und der Sorglosigkeit unserer Eliten.“
Keiner will einen Teenager an der Macht
Die Philosophin und Schriftstellerin Chantal Delsol tadelt Griveaux in Le Figaro für sein Benehmen:
„Der Skandal ist eher die Geliebte als der Inhalt des Videos. ... Muss ein Politiker tugendhaft sein? Ja, jedenfalls wenn er seine Tugend zum Wahlargument macht. Es ist inakzeptabel, wenn ein Politiker seine Familie überall herumzeigt und gleichzeitig ein Verhältnis hat. ... Benjamin Griveaux hätte sich denken können, dass die Wähler von dieser Art von Kinderei, falls sie öffentlich wird, nicht besonders angetan sein würden, während er den respektablen und verantwortungsvollen Familienvater gibt, der an die Macht kommen will. Niemand will von einem pubertierenden Teenager regiert werden.“
Politik spielt keine Rolle mehr
Schockiert darüber, dass ein Bürgermeisterkandidat über eine solche Geschichte stolpern kann, zeigt sich Schriftsteller Christian Salmon in Libération:
„Diese Video-Affaire ist ein Symptom für etwas, das wichtiger ist als Benjamin Griveauxs Rücktritt von seiner Kandidatur: den Zusammenbruch des demokratischen Betriebs. Abgesehen von seinem Nachrichtenwert ist dies eine gute Fallstudie, um zu verstehen, dass es das politische Leben und die politische Entscheidungsfindung nicht mehr gibt. Die Kampagne für eine Bürgermeisterwahl wie die der Stadt Paris sollte von Debatten geprägt sein. Aber etwas ganz anderes dominiert die Tagespresse.“