Corona-Mutation: Anspannung beidseits des Kanals
Die neue, um bis zu 70 Prozent ansteckendere Variante von Sars-CoV-2 hat sich aus Südengland in mindestens fünf weitere Länder ausgebreitet. Über 40 Staaten haben den Verkehr von und nach Großbritannien gestoppt, Lieferketten sind unterbrochen. Europas Presse debattiert, was die Politik nun tun muss, aber auch, welche Chancen diese Situation bietet.
So verspielt man Vertrauen
Mit der verspäteten Information über die Mutation hat London spektakulär schlechtes Krisenmanagement gezeigt, findet Eesti Päevaleht:
„Boris Johnsons 'Weihnachtsgeschenk' hat für zusätzliches Drängeln an den Transportknoten gesorgt und Verschwörungstheorien zu Corona und Brexit angeheizt. Der Eifer der EU, Transportverbindungen mit Großbritannien einzustellen, wirkt teils wie Brüssels Rache wegen des Brexit. ... Eine gute Corona-Politik bringt die Menschen dazu, die Auflagen der Regierung freiwillig zu erfüllen. Schlechte Corona-Politik fördert Zweifel und Ungehorsam. Die taumelnden Schritte der britischen Regierung haben genau das bewirkt. Die Wirkung kann aber über Großbritannien hinaus reichen.“
Abgeordnete zurück aus dem Urlaub!
In der aktuellen Not und Verzweiflung müssen Politiker alles andere zurückstellen, fordert The Times:
„Es bestehen kaum Zweifel daran, was die Regierung jetzt zu tun hat. Ihre Priorität muss es sein, das Impfprogramm maximal zu beschleunigen. ... Es sollte selbstverständlich sein, dass das Parlament - wie bei jedem nationalen Notfall - aus der Weihnachtspause zurückgerufen wird. Abgeordnete hätten so die Möglichkeit, die Reaktion der Regierung auf diese Krise, einschließlich der Impfpläne, unter die Lupe zu nehmen. ... Die Wiedereinbestellung des Parlaments würde Abgeordneten auch die Möglichkeit geben, die Strategie der Regierung bei den Brexit-Verhandlungen und deren bisheriges Versäumnis, hier endlich eine Einigung zu erzielen, in Frage zu stellen. “
Zweite Chance für die EU
Für die Neue Zürcher Zeitung zeigt sich in diesen Tagen auch etwas Positives:
„Die Zuspitzung der Krise ist auch eine zweite Chance für die EU. Nachdem das Krisenmanagement im Frühjahr miserabel war, hat jetzt die schnelle Alarmierung funktioniert. Kaum war der Warnruf aus London ertönt, rief die deutsche Ratspräsidentschaft zur Krisensitzung nach Brüssel. Was die Absprachen bewirken, werden die kommenden Tage und Wochen zeigen. Aber das Ziel ist klar: Die Grenzen innerhalb des Schengenraums sollen offen bleiben. ... Covid-19 ist nicht die letzte Herausforderung, die von der EU gemeinsame und schnelle Antworten verlangt. ... Es ist gewiss nicht zu früh, sich jetzt zu überlegen, wie eine reaktionsschnellere, schlagkräftigere Union aussehen könnte.“
Strategie kann beibehalten werden
Die britische Mutation ist nicht so gefährlich, wie es die jetzt ergriffenen drastischen Maßnahmen erscheinen lassen, argumentiert der Virologe Sergej Netjossow in Iswestija:
„Dieser Stamm scheint zwar leichter übertragbar zu sein als der vorherige, aber vermutlich vermehrt er sich einfach nur schneller. Und er wird wohl nichts an der Immunität der Geimpften oder bereits gesundeten Erkrankten ändern, weil die Veränderung der Aminosäuren nicht in den für die Antigene wichtigen Bereichen liegt. Das heißt, die Vakzine werden funktionieren. ... Aus politischer Perspektive hat Johnson wohl alles richtig gemacht. Besser jetzt übervorsichtig sein und in einem Monat nicht mehr nötige Verbote zurücknehmen, als den Leuten zu erlauben, sich vor den Feiertagen zu entspannen. Denn dann gäbe es unweigerlich eine neue Krankheitswelle. “
Abermals handelt die Regierung zu spät
Vor allem London, weniger die neue Mutation ist schuld an der erneuten Misere, meint The Guardian:
„Der Premierminister hätte schneller handeln müssen. Er verstand vielleicht nicht genau, was den Anstieg von Covid-Fällen begründete, aber mehrere Minister wussten seit einer Woche, dass hier etwas nicht stimmt. ... Zum dritten Mal in diesem Jahr hat sich die Regierung geweigert, sich den Tatsachen zu stellen und die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen – bis es viel zu spät war. Diese Versäumnisse haben nicht nur Tausende Menschenleben gekostet, sondern auch das Vertrauen zerstört, das für die notwendige Mitarbeit so wichtig ist. ... Ein mutiertes Virus kann nicht als alleinige Erklärung dafür dienen, dass wir uns in diesem Chaos befinden und es kann uns nicht gänzlich von den Fehlern ablenken, die uns hierher geführt haben.“
Lackmustest für die Pandemiebekämpfung
Ein Déjà-vu erkennt El Español:
„Wir wollen nicht in Panikmache verfallen, aber die Angst vor einer dritten tödlichen Welle über Weihnachten ist greifbar, weil die Festtage die Bedingungen erfüllen, die zu einem kompletten Chaos führen können. ... Sollte sich das schlimmste Szenarium erfüllen und die hohe Ansteckungsrate des britischen Virus erneut zum Kollaps der Intensivstationen führen, wäre das der Beweis dafür, dass wir nichts dazugelernt haben. Deshalb müssen wir dringend die seit Beginn der Pandemie begangenen Fehler analysieren. Es ist ein Déja-vu: Wieder sehen wir uns einer unbekannten Gefahr gegenüberstehen.“
Vorgeschmack auf "splendid isolation"
Corona zeigt den Briten jetzt schon, dass ein harter Brexit kein Zuckerschlecken wird, stellt De Tijd fest:
„Die Versorgungskette gerät durch die Schließung der europäischen Grenzen in Probleme. Eine Kette, die durch den nahenden Brexit bereits schwer unter Druck steht. Es gibt bereits einen allgemeinen Wettlauf, noch so viel Waren wie möglich zu kaufen, und das führt zu endlosen Staus auf beiden Seiten des Ärmelkanals. ... Das Coronavirus sorgt zur Zeit für einen mehr oder weniger harten Brexit, der noch nicht einmal geplant ist. Die vollständige, befristete Isolation Großbritanniens gibt ungewollt einen kleinen Vorgeschmack darauf, wie ein Brexit ohne Handelsdeal aussehen wird. Es ist sicher keine 'splendid isolation'.“
Eindämmung jetzt wichtiger als Brexit-Deal
Es wäre unsinnig, die noch offenen Brexit-Probleme nun mit heißer Nadel lösen zu wollen, warnt die taz:
„Die aktuelle Einstellung jeglichen Reiseverkehrs zwischen London und Brüssel macht … die vertieften Verhandlungen unmöglich, die nötig wären, um Gemeinsamkeiten und Kompromisslinien herauszuarbeiten. ... Ein Brexit-Deal könnte also das erste Opfer der neuen Coronabeschränkungen werden. Ein 'No Deal' verliert aber viel von seinem Schrecken, wenn seine schlimmsten Folgen ohnehin im Namen der Virusbekämpfung eintreten. No-Deal-Notmaßnahmen beider Seiten liegen längst in den Schubladen. Europa und Großbritannien sollten sie jetzt in Kraft setzen und sich dann mit voller Konzentration der Pandemie widmen – gemeinsam. Sonst gibt es bald keine Wirtschaft mehr, die vor Handelsbeschränkungen zu retten wäre.“