Frankreich: Entrüstung über Urteil nach Mord an Jüdin
In Frankreich haben rund 25.000 Menschen gegen ein Urteil des Kassationsgerichts demonstriert. Dieses hatte die Schuldunfähigkeit eines Mannes bestätigt, der vor vier Jahren seine jüdische Nachbarin ermordet hatte. Der Täter wurde wegen einer Psychose infolge von Cannabis- und Alkoholkonsum für unzurechnungsfähig erklärt, muss aber für mindestens 20 Jahre in die Psychiatrie. Europas Presse zeigt Verständnis für die Proteste.
Marihuana als Garant für Straffreiheit
Ob etwa ein Freibrief für Morde an Juden ausgestellt wird, fragt Petre Iancu vom rumänischen Dienst der Deutschen Welle:
„Man kann also folgern, dass es ausreicht, auf seinen Marihuana-Konsum zu verweisen, damit man in Ruhe Juden ermorden kann, ohne sich vor dem Gesetz verantworten zu müssen; ohne dass einem eine Strafe droht; ohne, dass man ins Gefängnis geht. Dass auch das oberste Gericht Frankreichs dieses skandalöse Urteil bestätigt hat, ist ein Problem für Frankreich und, natürlich, für ganz Europa. ... Wenn ein Autofahrer Fußgänger tötet, so erklärte es der Anwalt der Familie Halimi, Francis Szpiner, dann wirkt ein Rausch eher strafverschärfend als strafmildernd.“
Verrat an unserem Vertrauen
In Le Point begrüßt Arié Bensemhoun, Leiter des Frankreich-Büros der NGO Elnet zur Stärkung der Beziehungen zwischen Europa und Israel, den Protest gegen das Urteil:
„Dieses moralische und richterliche Scheitern scheint das Gewissen unserer nichtjüdischen Mitbürger zu wecken. … Die Juden sind nicht mehr allein. Frankreich ist allein, steht alleine seinem Leugnen gegenüber, seinem Werteverrat, seinen Feigheiten, seinen Zugeständnissen und seinen Verzichten. Es steht vor der Herausforderung, sich wieder aufzurichten, um ein Leuchtturm unter den Nationen zu bleiben. … Das Frankreich, das sich heute weigert, den Mörder von Sarah Halimi zu verurteilen, verübt Verrat an unserem Vertrauen als Anhänger der Republik. Es stürzt uns in tiefes Unverständnis und verstärkt die schmerzhaften Gefühle, im Stich gelassen zu werden.“
Aufarbeitung gebührt der Öffentlichkeit
Den Protestierenden geht es nicht um Strafe und Sühne, stellt Paris-Korrespondent Stefan Brändle in der Frankfurter Rundschau klar:
„[D]ie gestörte Persönlichkeit des Täters zeigt, dass die juristische Aufarbeitung dieses jahrhundertealten und, jawohl, dämonischen Motivs [Antisemitismus] fallweise eher in die Psychiatrie gehört als vor Gericht. ... Dass die französischen Jüdinnen und Juden einen Prozess fordern, ist nur zu verständlich: Sie wollen, dass das gesellschaftliche Umfeld der Tat aufgearbeitet wird. Sie wollen aufzeigen, dass ein solches Verbrechen, so unerklärbar es sein mag, durchaus erklärbare Hintergründe hat. ... Diese Aufarbeitung hat aber nicht mit Paragrafen und psychiatrischen Expertisen zu erfolgen. Sie gebührt der Öffentlichkeit, den Medien, der Politik.“