Nato-Beitritte: Türkei fordert 33 Auslieferungen
Die Türkei verlangt für ihre Zustimmung zum Nato-Beitritt von Schweden und Finnland einen hohen Preis: Einen Tag nach der Einigung auf ein vage gehaltenes Memorandum zur gegenseitigen Unterstützung forderte sie von den beiden Ländern die Auslieferung von 33 Menschen, die sie als "Terrorverdächtige" einschätzt und die der PKK oder der Gülen-Bewegung angehören sollen. Kommentatoren üben heftige Kritik.
Die Doppelmoral
Der Westen hat ein extrem kurzes und selektives Gedächtnis, wettert Il Manifesto:
„Noch vor wenigen Jahren waren die Kurden unsere heldenhaften Verteidigergegen das Böse der Terrormiliz IS. Heute ist das Böse ein anderer und die Verteidiger werden nicht mehr gebraucht. Sie flohen in großer Zahl nach Finnland und Schweden, ebenso wie die Türken, die Erdoğan beschuldigte, an dem Putschversuch 2016 gegen ihn beteiligt gewesen zu sein. ... Nato-Generalsekretär Stoltenberg verurteilte seinerzeit entschieden den Putschversuch in der Türkei - die entsetzlichen Säuberungsaktionen von Erdoğan, die bis heute anhalten, verurteilte Stoltenberg nicht. Aber die Doppelmoral ist das stilistische Markenzeichen des gesamten Bündnisses.“
Sicherheit geht vor Frauenbefreiung
Mit einer "feministischen Außenpolitik", die Schweden offiziell verfolgt, hat die Auslieferung von Kurdinnen und Kurden überhaupt nichts zu tun, empört sich Zeit Online:
„Genau die Gruppen zu kriminalisieren, die jahrelang an vorderster Front gegen den IS gekämpft und dadurch insbesondere auch Frauenrechte beschützt und verteidigt haben? Kurd:innen zu verfolgen, während Rojava (Westkurdistan) weltweit eine der einzigen Regionen ist, die sich konsequent dem Aufbau einer Gesellschaft widmet, in der Frauenbefreiung oberste Priorität hat? ... Der nordische Nato-Beitritt macht deutlich, dass nationale Sicherheitsinteressen mal wieder Vorrang haben vor feministischen Prinzipien.“
Fader Beigeschmack
Finnland und Schweden haben eine Lehrstunde über die Entscheidungsprozesse in der Nato erhalten, resümiert Keskisuomalainen:
„In Madrid haben Finnland und Schweden erfahren müssen, wie stark ein einzelner Mitgliedsstaat die Entscheidungsfindung der Nato blockieren kann, obwohl es sich nicht einmal um eine schwierige Frage der militärischen Unterstützung handelte. Es hinterließ einen faden Beigeschmack. Mit den Kurden versucht die Türkei nicht einmal, auf dem Verhandlungsweg eine Lösung zu finden, sondern sie setzt auf Gewalt.“
Ankara zur Rede stellen
Expressen sieht gute Chancen, gegenüber Ankara mit List zu agieren:
„Sicher, wir haben eine schnelle Auslieferung zugesagt; im Abkommen steht aber auch, dass dies nicht im Konflikt mit der Europakonvention geschehen darf. ... Außerdem könnnen wir die Chance nutzen, unsere eigenen Probleme mit der Türkei zu thematisieren. Mehrere türkische Dissidenten sind unter suspekten Umständen in Schweden misshandelt worden - das ist absolut unakzeptabel. Wenn Schweden erst einmal in der Nato ist, können wir im Rahmen des engen Dialogs mit der türkischen Geheimpolizei alles auf den Tisch legen, was unserer Geheimpolizei über deren Aktionen in Schweden bekannt ist, und fordern, dass damit sofort Schluss sein muss.“
Das Ende naiver Hoffnungen
Schweden musste Prioritäten setzen, meint Göteborgs-Posten:
„Wir sind nach wie vor ein Rechtsstaat. ... Das Oberste Gericht hat schon bei früheren Gelegenheiten türkische Auslieferungsanträge zurückgewiesen. ... Natürlich wäre es besser gewesen, wenn Erdogan gar keine Forderungen gestellt hätte und uns dieses ganze Hin und Her erspart geblieben wäre - aber so war es nun einmal nicht. Und eines haben Schwedens Nato-Antrag und die Verhandlungen mit der Türkei auf jeden Fall gebracht: das Ende sämtlicher naiver Hoffnungen, wonach Außen- und Sicherheitspolitik auf idealistischer Grundlage geführt werden können. Wenn es darauf ankommt, hat für schwedische Politiker die Sicherheit Schwedens natürlich Priorität.“
Schweden hat jetzt ein Problem
Die regierungskritische Gazete Duvar erinnert daran, dass die schwedische Regierung bisher nur dank der unabhängigen kurdischen Abgeordneten Amineh Kakabaveh eine Mehrheit im Parlament hatte:
„Bei der ersten Abstimmung könnte jetzt die Regierung stürzen. Dieses Land hat jetzt ein Türkei-Problem. Liegt die Außenpolitik des Landes in den Händen Erdoğans? Beim Nato-Eintritt wurde das Veto überwunden, aber was wird passieren, wenn die Vetokarte bei jedem Schritt gezeigt wird? Welche Oppositionellen werden abgeschoben? Werden Erdoğan für die Militäroperationen in Syrien Waffen gegeben? Was ist aus den Werten des Landes geworden? Fragen, die die Politik beeinflussen können. Letztlich wird dies auch an den Wahlurnen zum Tragen kommen.“
Tücken im Nato-Deal
Die Presse warnt davor, die kurdischen Kämpfer in Nordsyrien im Stich zu lassen:
„Die PKK kämpft seit Jahrzehnten einen Untergrundkrieg in der Türkei. Offiziell steht sie auf der Terrorliste der EU und der USA. Zugleich half die PKK aber dabei, die ihnen ideologisch nahestehenden Volksverteidigungseinheiten (YPG) in Syrien aufzubauen. Und die zerschlugen an der Seite des US-Militärs das 'Kalifat' des Islamischen Staates (IS). Als zentraler Teil der Streitkräfte der nordsyrischen Selbstverwaltung führen die YPG nach wie vor mit US-Einheiten Operationen gegen den IS durch. Dass nun zugleich Finnland und Schweden schriftlich versprechen mussten, die YPG nicht zu unterstützen, wirkt somit bizarr.“
Humanismus "à la carte"
Der Kolumnist Marios Dionellis kritisiert in seinem Blog die Haltung Europas:
„Europa kann das Blut der Ukrainer nicht ertragen, macht aber Erdoğan ein Geschenk, sodass er die Kurden abschlachten kann. Und um die Nato zu erweitern, haben wir ihm den Gefallen getan, diejenigen, die für ihre Freiheit kämpfen, als Terroristen zu bezeichnen. Unser Humanismus ist ein wenig 'à la carte', aber was können wir tun? ... Um die Nato zu erweitern, traf sich Biden mit Erdoğan und versprach ihm F-16-Kampfjets. Deshalb werden wir Griechen gleich F-35-Kampfjets kaufen, wiederum von Biden, der als guter Verkäufer an beide Deppen in großer Menge verkauft.“