In wessen Hand liegt Syriens Schicksal?
Bei einem Treffen in Sotschi haben Putin und Erdoğan einen gemeinsamen Plan für Syrien ausgehandelt, der zehn Punkte umfasst. Unter anderem wurden eine Verlängerung der Waffenruhe um 150 Stunden und eine grenznahe Pufferzone vereinbart, aus der sich die Kurdenmiliz YPG zurückziehen soll. Danach übernehmen russische, türkische und syrische Einheiten die Kontrolle. Wer in Syrien künftig den Ton angeben wird, diskutieren Kommentatoren.
Ungeahnte Machtfülle für Putin
Als Beweis der neuen russischen Machtposition sieht Der Standard das Treffen:
„Die Kritik des Westens an seiner Militäroffensive lässt Tayyip Erdoğan völlig kalt; doch wenn der türkische Präsident in Syrien etwas erreichen will, kann er das nur im Einvernehmen mit Russland, mit der Führung im Kreml. Wladimir Putin hat seinen Amtskollegen nach Sotschi vorgeladen, um über das weitere Schicksal Syriens zu verhandeln. Allein das zeigt, über welche Macht der russische Präsident mittlerweile auf internationaler Ebene wieder verfügt. Nach dem Rückzug der USA aus Syrien ist Russland quasi die einzige große Ordnungsmacht im Nahen Osten. Es ist wohl mehr, als sie sich in Moskau erträumt haben, als Putin 2015 beschloss, Syriens Staatschef Bashar al-Assad mit russischen Bomben an der Macht zu halten.“
Erdoğan verhandelt de facto mit Assad
Dass Putin Erstaunliches erreicht hat, findet Murat Yetkin:
„Putin, der überall auf der Welt als der größte Gewinner der Syrienkrise gesehen wird, hat auch von Erdoğan etwas bekommen, was er sich sehr gewünscht hatte: die Zusage, dass der ganze Prozess von nun an in Zusammenarbeit mit dem syrischen Regime geführt wird. ... Dabei hatte sich Erdoğan einst mit dem Ziel in Syrien eingemischt, dass Assad geht, das Baath-Regime gestürzt wird und an dessen Stelle vorzugsweise eine Regierung aus Muslimbrüdern tritt. Jetzt hat Erdoğan Putin zwar nicht versprochen, sich mit Assad anzufreunden, aber immerhin mit dem Baath-Regime zusammenzuarbeiten. ... In der jetzigen Lage ist zwar nicht klar, wie lange Assad im Amt bleiben wird, trotzdem hat er bis zu einem gewissen Grad gewonnen. “
Zar und Sultan teilen sich Syrien
Das ist das Ende von Westkurdistan, schimpft La Repubblica:
„Abschied von Rojava. Kobane bald in den Händen türkischer Truppen. Der Traum vom 'Westkurdistan' in Nordsyrien schwindet endgültig in der siebten Stunde des Treffens in Sotschi am Schwarzen Meer dahin, bei dem der Zar und der Sultan sich die letzten Reste eines autonomen kurdischen Territoriums untereinander aufteilen… Der Pakt Putin-Erdoğan sanktioniert damit nach Hunderten von zivilen Opfern das Ende des autonomen Experiments Rojava. ... Wenn die kurdische Bevölkerung nicht in den Süden fliehen will, in jenes Syrien, das von Präsident Bashar al-Assad kontrolliert wird, muss sie sich der neuen Besatzungsmacht unterwerfen.“
Wenn der Gegner seinen Torwart vom Feld nimmt
Radio Kommersant FM bezweifelt, dass Russland in seiner neuen Rolle als Ordnungsmacht im Nahen Osten immer mit so leicht Erfolg haben wird:
„Selbst den USA mit ihrer viel stärkeren Wirtschaft gelingt es nicht, diese Mission zu erfüllen. Überfordert sich Moskau damit nicht? … Vorerst gibt es dafür keine Anzeichen. Aber sich auf den Lorbeeren ausruhen sollte man nicht. Nicht immer werden für Russland geopolitische Siege so leicht zu haben sein wie jetzt nach den Abzug des US-Kontingents aus Nordostsyrien. Diese Halbzeit im Nahost-Spiel hat Moskau mit überwältigendem Resultat gewonnen. Aber machen wir uns keine Illusionen: Das Ergebnis ist vor allem dadurch zu erklären, dass der Gegner seinen Torwart vom Feld genommen hat und Russland aufs leere Tor schießen konnte. Und so wird es nicht immer sein.“