Strompreiskrise: Wie sollte die EU reagieren?
Die EU will den Strommarkt reformieren. Die bislang in erster Linie von den Gaskraftwerken vorgegebenen hochschnellenden Preise zeigen laut EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen die "Grenzen unseres jetzigen Strommarktdesigns". Am 9. September sollen die Mitgliedsstaaten auf einem Sondertreffen über Alternativen beraten. Welche staatlichen Maßnahmen jetzt nötig sind, diskutiert Europas Presse.
Von 2014 bis heute geschlafen
Dass die EU wertvolle Zeit verschwendet hat und nun überrascht wird, ärgert La Stampa:
„Der von Moskau ausgelöste Energiesturm war vorhersehbar und wurde vorhergesagt. Die EU-Kommission warnte die Hauptstädte schon im Herbst 2014, dem Jahr der ersten großen Krise in der Ukraine: Die EU könne nur einige der Faktoren, von denen die Stabilität der russischen Gaslieferungen abhängt, kontrollieren, sodass es klug wäre, Korrekturmaßnahmen zu ergreifen und entschlossen für die Energieversorgungssicherheit auf dem Kontinent einzutreten. ... Nichts geschah. ... So sind wir mit der schlimmsten Energiekrise seit Menschengedenken konfrontiert und wissen nicht, wie wir auf die Ängste vor dem Winter reagieren sollen.“
Staat muss wieder die Kontrolle übernehmen
Der freie Markt hat hier versagt, ist sich Le Soir sicher:
„Die 27 Mitgliedsstaaten müssen sich aufraffen und sich daran erinnern, dass der Markt und seine Anbieter/Spekulanten, die sie verschaukeln, nur dann mächtig sind, wenn die Staaten ihnen freie Hand lassen. 'Der Markt steht im Schach', erklärt Belgiens Energieminister Tinne Van der Straeten. 'Fix it', ist man geneigt, den europäischen Institutionen zuzurufen. Der Staat soll wieder die Kontrolle übernehmen. Das hat EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen am Montag versprochen, als sie eine Notfallmaßnahme sowie eine Strukturreform des Strommarkts für den 9. September angekündigt hat. Besser spät als nie?“
Energieschock abmildern
La Vanguardia fordert sofortige, effektive Maßnahmen:
„Die Entscheidungen müssen auf europäischer Ebene getroffen werden. Der belgische Premierminister forderte, dass sich die EU dringend auf eine Obergrenze für die Gaspreise einigen sollte. ... Im Vereinigten Königreich wird bereits über eine Erhöhung der Subventionen für niedrige und mittlere Einkommen nachgedacht ebenso wie über ein Darlehensprogramm für Energieunternehmen. ... Auch Frankreich hat Maßnahmen ergriffen, wie die Begrenzung des Strompreisanstiegs auf vier Prozent und das Einfrieren der Erdgaspreise. ... Der Anstieg der Strom- und Gaspreise in Spanien erfordert eine weitreichendere Debatte als bisher, um auf den Energieschock bestmöglich reagieren zu können.“
So viele Kraftwerke wie möglich bauen
Dass in der Vergangenheit in Großbritannien nicht massiv in zusätzliche Energiequellen wie Wind- und Wasserkraft sowie Atomstrom investiert wurde, rächt sich nun bitter, klagt Kolumnist Hugo Rifkind in The Times:
„Wir geben Milliarden für Obergrenzen, Steuersenkungen und Rabatte aus. Mit jedem einzelnen Pfund mieten wir so unsere Zukunft, anstatt in sie zu investieren. Und das bringt uns nirgendwo hin, nur durch die dunkle, kalte Nacht bis zum folgenden Morgen. Es gibt ein Sprichwort, an das ich kürzlich erinnert wurde: 'Die beste Zeit, einen Baum zu pflanzen, war vor zehn Jahren - und die zweitbeste Zeit ist jetzt.' ... Daher lasst uns [Kraftwerke ohne Schadstoffausstoß] bauen. Bauen wir sie alle. ... Wir werden es nie bereuen. Wenn wir nur schon alles gebaut hätten.“
Mehr eigenes Erdgas ist die Lösung
Statt den liberalen Markt zu stören, sollte man das Energieangebot durch Fracking erweitern, fordert Berlingske:
„Die Ausschreibung von Genehmigungen zur Suche und Förderung von Erdgas in der Nordsee sollte wieder aufgenommen werden. Die Abneigung gegen Fracking als Methode zur Gewinnung von mehr Erdgas sollte überdacht werden. Fracking hat die USA unabhängig von Importen fossiler Brennstoffe gemacht und dazu beigetragen, die CO2-Emissionen der USA zu reduzieren, weil Kohle durch Erdgas ersetzt wurde. ... Lassen Sie den Preismechanismus in Ruhe arbeiten und starten Sie die dänische Erdgasförderung. Sie könnte zum Kohleausstieg in Europa und weltweit beitragen.“
Technischer Fortschritt entwaffnet Russland
Was Moskau wohl am meisten fürchtet, weiß Nowaja Gaseta Ewropa:
„Die Gefahr für den russischen Staat liegt weniger in der Diversifizierung der europäischen Energieimporte als im technischen Fortschritt als solchen: effiziente Motoren, Energiesparhäuser, Hightech-Beleuchtungssysteme. Die Entwicklung solcher Dinge schlägt unserer Führung irgendwann die 'Gaswaffe' aus der Hand: Man wird nicht mehr von uns abhängen und muss uns keine Zugeständnisse mehr machen. ... Wenn Putin könnte, würde er wohl alle Windkraftwerke stilllegen, alle Solarzellen zerstören lassen und jede Forschung in diesem Bereich blockieren. Unser Staat verteidigt das Archaische und den Rückstand.“
Exporte innenpolitisch schwierig zu rechtfertigen
Svenska Dagbladet sieht das Nachbarland Norwegen im Dilemma:
„In einer von norwegischer Seite viel beachteten Analyse hat die Financial Times darauf hingewiesen, dass es an der Zeit sei, Norwegen aufzufordern, Gas unter Marktpreis an die EU zu verkaufen. Premier Jonas Gahr Støre steht unter Druck, wenn es um Energieexporte geht. ... Norwegen hat bereits einige Maßnahmen angekündigt, die große Besorgnis ausgelöst haben: Innerhalb der anderen Regierungspartei, der Zentrumspartei, gibt es starke Forderungen nach Energienationalismus. Die norwegische populistische Fortschrittspartei schlägt unter ihrer neuen Vorsitzenden Sylvi Listhaug in dieselbe Kerbe und nennt den Premier verantwortungslos.“
Protektionismus wäre sehr kurzsichtig
Dass Norwegen aufgrund niedriger Wasserstände in Stauseen mehr Ressourcen im Land behalten und auch weniger Strom exportieren will, sorgt Helsingin Sanomat:
„Norwegischer Strom fließt nicht nur in die nordischen Länder, sondern auch nach Mitteleuropa und ins Vereinigte Königreich. … Ausfuhrbeschränkungen und Protektionismus sind einfache Antworten auf komplexe Probleme. ... Im kommenden Winter braucht Europa grenzüberschreitende Solidarität. Ein Winter des Protektionismus könnte den Bemühungen um den Aufbau eines funktionierenden Strommarktes langfristig schaden. Das wäre sehr schade, denn die grundlegenden Argumente für einen großen und reibungslos funktionierenden Strommarkt werden auch dann noch gelten, wenn der Frühling kommt.“
Europa braucht eine einheitliche Strategie
Wie wichtig ein gemeinsames Vorgehen der EU ist, mahnt Wirtschaftswissenschaftlerin Lucrezia Reichlin in Corriere della Sera an:
„Energienationalismus funktioniert nicht auf einem globalen Markt. Ein gemeinsames Vorgehen ist sowohl im Hinblick auf ein effizienteres Krisenmanagement sinnvoll - Rationierung, Beschaffung, Preisobergrenzen, Finanzierung von Notfallmaßnahmen - als auch aus industriellen und politischen Gründen. Der industrielle Aspekt ergibt sich aus dem Skaleneffekt der Energiewirtschaft. Der politische aus der Tatsache, dass unsere Abhängigkeit vom Rest der Welt auch dann nicht erledigt sein wird, wenn wir das Ende der Abhängigkeit von Russland erreichen.“
Schmutzarbeit nicht auf andere abwälzen
Der Deutschlandfunk fordert, endlich eine ehrliche Debatte über heimisches Gas zu führen:
„Dabei geht es dann auch um das hydraulische Fracking. ... Die Technik ist mit [ökologischen] Risiken verbunden. 2017 wurde sie in Deutschland verboten. ... Im eigenen Land wollen wir nicht fracken, aber wir wollen uns Fracking-Gas per LNG-Terminal in Wilhelmshaven, Stade oder Brunsbüttel liefern lassen. Und seien wir ehrlich: Unter welchen Umweltbedingungen das russische Erdgas gefördert wird, das hat ohnehin nicht interessiert. Wir wollen aus allem aussteigen, was im Ruf steht, schmutzig zu sein, wollen uns gut fühlen.“
Reiche sollen mehr zahlen
In kleineren Ländern muss es vor allem darum gehen, einkommensschwache Haushalte vor den Auswirkungen der Krise zu schützen, fordert Times of Malta:
„Die Energiekrise wird in absehbarer Zeit nicht enden. Einige Länder wie Frankreich, Deutschland und Japan können verstärkt auf Kernkraftwerke setzen, um das Problem der steigenden Energiepreise zu lindern. In Malta haben wir keine derartige Option. ... Der Schutz besonders hart getroffener Haushalte sollte die oberste Priorität der Regierung sein. Die wohlhabenderen Teile der Bevölkerung sollten einen größeren Teil der Last der gestiegenen Energiepreise tragen, indem sie höhere Verbrauchersteuern zahlen, wenn gewisse Richtwerte übertroffen werden.“