Türkei: Dank Putin zur Gas- und Diplomatiedrehscheibe?
Bei einem Treffen in Astana hat Wladimir Putin seinem türkischen Amtskollegen Erdoğan vorgeschlagen, die Türkei zu einem Erdgas-Knotenpunkt auszubauen. So könnte russisches Gas in Drittländer verkauft werden, "vor allem in Europa". Nur einen Tag später kündigte der türkische Präsident an, tatsächlich einen Umschlagpunkt für russisches Gas bauen zu wollen, in Zusammenarbeit mit Moskau.
Moskau leistet Erdoğan Wahlhilfe
Die türkische Opposition warnt, dass Putin Einfluss auf die nächsten Wahlen in der Türkei 2023 nehmen könnte. Dafür braucht er nicht einmal heimliche Cyberattacken, kommentiert Habertürk:
„Putin, der Erdoğan zum Wahlsieg verhelfen will, muss dafür in der virtuellen Welt keine kniffligen Spiele spielen. Er leistet bereits jetzt die größtmögliche Unterstützung, indem er die Erdgaspreise in diesem Winter senkt, Erdoğan als international angesehenen Akteur hervorhebt und das frische Geld, das die Regierung benötigt, durch neue Investitionen bereitstellt.“
Keine Patentlösung für Russland
Dmitrij Drise von Radio Kommersant FM hält die Idee vom Gas-Hub für einen türkischen Wahlkampfschachzug:
„Weder werden konkrete technische Details des neuen Projekts genannt, noch jubeln Europas Hauptstädte und danken Erdoğan als ihrem Befreier aus dem Kältekerker. Es sieht so aus, als wären all diese Äußerungen eher an das heimische Publikum gerichtet, hat doch der Präsident vorrangig seinem eigenen Land billigen Brennstoff beschafft. Zumal nächstes Jahr in der Türkei Wahlen anstehen. ... Aber was ist, wenn Erdoğan die Wahlen nicht gewinnt und das Land seinen Kurs ändert? ... Auf Erdoğan persönlich zu setzen ist, sagen wir mal, heikel. Umso mehr, als der kollektive Westen nicht tatenlos dasitzt, sondern Druck macht.“
Unrealistische Träumerei
Für Artı Gerçek ist der Weg zum Gas-Hub noch sehr weit:
„Moskau müsste auf LNG setzen oder eine neue Leitung bauen, um zusätzliches Gas in die Türkei zu transportieren. ... Überschlägt man grob die Kosten dafür, kommt man auf knapp 10 Milliarden Dollar. ... Wer würde das übernehmen? Der russischen Wirtschaft könnte das insbesondere durch den Rückgang des Ölpreises und die Kriegskosten Schwierigkeiten bereiten. Auch ist fraglich, wer einem Land Kredit gibt, das aus dem Swift-System ausgeschlossen und Sanktionen ausgesetzt ist. Auch für die türkische Wirtschaft ist das nicht leicht zu decken. ... Vielmehr fordert die Türkei derzeit von Gazprom einen Schulden-Aufschub. Vielleicht sollte man mehr über konkret Realisierbares reden, anstatt über Träume für in drei bis fünf Jahren, die wahrscheinlich eh platzen.“
Eine große Chance
Ankara sollte die geografische Position der Türkei gut nutzen, findet Yeni Şafak:
„In diesen Tagen, in denen Erdgas so wichtig geworden ist und ganz Europa darüber nachdenkt, wie die Sicherheit der Versorgung gewährleistet werden kann, bietet sich der Türkei eine große Chance. Sie sollte nicht nur ein Transitland sein, durch das Pipelines verlaufen. Die Türkei sollte nicht nur Kreuzungspunkt sein, an dem sich die Länder, die über Energieressourcen verfügen, und die Länder, die diese Ressourcen verbrauchen, treffen, sondern ein Zentrum für Erdgas. Ein Zentrum, in dem Erdgas gesammelt, weitergeleitet und auch der Preis dafür festgelegt wird.“
Nichts als Etikettenschwindel
Hier sollen im großen Stil politische Hürden umgangen werden, macht sich Diena keine Illusionen:
„Russisches Flüssiggas fließt weiterhin nach Europa, wechselt dabei den Besitzer, und dementsprechend gelten die Lieferungen nicht mehr als Lieferungen aus Russland. ... Die Türkei wird sich um den Verkauf von russischem Gas nach Europa kümmern und aus Höflichkeitsgründen ein wenig mit Lieferungen aus Aserbaidschan verwässern. Ankara ist zweifellos an einem solchen Szenario interessiert, da es einen erheblichen Unterschied macht, ob man nur der Ort ist, an dem Russland sein Gas handelt, oder die Möglichkeit hat, selbst mit russischem Gas zu handeln.“
Noch mehr Erpressungsspielraum
Ist der EU eigentlich klar, was da im Gange ist, fragt sich La Stampa:
„Ausgezeichnete Beziehungen zum Nato-Mitglied Türkei zu pflegen, ist für das von Sanktionen betroffene Russland von entscheidender Bedeutung. Sanktionen, die Ankara wohlgemerkt ignoriert. Deshalb lobte Putin in Astana die Verlässlichkeit Erdoğans. ... Er wollte deutlich machen, dass die Europäer - die heute mit Nachdruck behaupten, sich von den russischen Lieferungen emanzipieren zu wollen - , letztlich Erdoğan bezahlen werden, sobald die deutschen Gaspipelines durch türkische ersetzt werden. Damit würde Erdoğans Einfluss auf dem Alten Kontinent gestärkt und sein Erpressungsspielraum ausgebaut. Spielraum, den der türkische Präsident seit 2015 hat - seit Europa nämlich die Türkei dafür bezahlt, den Migrantenstrom über die Balkanroute zu kontrollieren.“
Ankara kann zum globalen Player aufsteigen
Für die Türkei tun sich weitreichende Perspektiven auf, heißt es bei Adevărul:
„Wenn es der Türkei gelingt, zur wichtigsten (und fast einzigen) Route für den Transport von Öl und Gas von Russland nach Europa zu werden, dann steigt sie zu den großen globalen Akteuren auf, mit denen Europa neue Machtbeziehungen eingehen muss. … Vor diesem Hintergrund kann die Türkei der Uno vermitteln, dass sie nicht nur ein Garant für die Sicherheit des Weizentransportes über das Meer ist, sondern auch für einen Ausgleich der Spannungen im Energiebereich sorgen kann, die Sicherheit der gesamten Pipeline eingeschlossen. … Die Vereinten Nationen könnten sogar versucht sein, eine Lösung vorzuschlagen, bei der die Türkei als Verhandlungsführer fungiert und die nächste Etappe vorbereitet: eine Friedenskonferenz.“
Prädestinierte Vermittlerin
Für Sabah machte das Treffen die herausragende Rolle der Türkei in der internationalen Diplomatie deutlich:
„Ankara wird diesen Vorschlag [Gas über die Türkei nach Europa zu leiten] aus einer integrierten Perspektive betrachten, die die verschiedenen Interessen seiner Nachbarregionen zusammenführt. ... Die Botschaft des Kremls, dass 'Putin, wenn es ihm angeboten wird, auf dem G-20-Gipfel mit Biden zusammentreffen könnte', hat die Option der Diplomatie und die Frage der Vermittlung durch die Türkei wieder auf die Tagesordnung gesetzt. ... Als einziger Nato-Staatschef, der Putin trifft, verfolgt Erdoğan eine Politik, die zu einem Versöhnungsprozess nicht nur zwischen der Ukraine und Russland, sondern auch zwischen dem Westen und Russland beitragen könnte.“
Reine Schaufensterpolitik
Worum es Erdoğan wirklich geht, erklärt der Deutschlandfunk:
„In der Türkei werden im kommenden Jahr Präsident und Parlament neu gewählt. Erdogan demonstriert, dass er die Türkei zu einem mächtigen Akteur auf der internationalen Bühne gemacht hat. Und er profitiert von Putins Isolation. ... Das Treffen in Kasachstan war also reine Schaufensterpolitik: Putin und Erdogan haben in Astana Friedensdiplomatie allenfalls vorgegaukelt. Es ist richtig, dass die USA, die Europäer und die Ukraine sich darauf nicht einlassen. So bitter es ist: Solange Russland auf seinem Kriegsziel beharrt, die Ukraine als Staat zu vernichten, haben Verhandlungen keinen Sinn.“
Keine Spur von Friedensbemühungen
In Energiefragen scheint sich jeder selbst der Nächste zu sein, klagt La Repubblica:
„Energiechancen siegen über diplomatische Ambitionen. Die Idee des russischen Präsidenten Wladimir Putin, in der Türkei einen Umschlagpunkt zu schaffen, um das Gas der Föderation nach Europa zu exportieren, hat Erdoğan so sehr gereizt, dass der türkische Staatschef gestern in Astana Verhandlungen mit der Ukraine nicht einmal erwähnt hat. ... In einer Zeit, in der die russischen Lieferungen in die EU durch die Lecks in den beiden Nord-Stream-Pipelines und die westlichen Sanktionen stark beeinträchtigt sind und die EU auch die Einführung einer Obergrenze für Gaspreise in Erwägung zieht, hätte die Türkei viel zu gewinnen.“