Proteste in der Türkei: Wie geht es weiter?
Die Massendemonstrationen gegen die Inhaftierung von Ekrem Imamoğlu und dessen Absetzung als Istanbuler Oberbürgermeister haben sich auch am Montag fortgesetzt. Mehr als 1.000 Demonstranten wurden bisher festgenommen. Die Oppositionspartei CHP hatte Imamoğlu, der als aussichtsreichster Konkurrent von Langzeitpräsident Erdoğan gilt, am Sonntag zu ihrem Kandidaten für die Präsidentschaftswahl 2028 gekürt.
Eine heftige Schockwelle
El Mundo betont die Bedeutung Istanbuls:
„Obwohl die Wahlen noch drei Jahre entfernt sind, wurde das politische Schachbrett der Türkei nach der Verhaftung des Bürgermeisters von Istanbul umgedreht. Die Stadt ist demografisch und wirtschaftlich bedeutend (sie erwirtschaftet 30 Prozent des BIP des Landes) und ein Sprungbrett im Präsidentschaftsrennen. Das erklärt das Ausmaß der größten Straßenrevolte seit zehn Jahren. Die Schockwelle hat die Wirtschaft hart getroffen, die türkische Lira auf ein Rekordtief getrieben und eine Verkaufswelle auf dem Finanzmarkt ausgelöst.“
Erdoğan beherrscht das Autokraten-Einmaleins
Die Massen haben einen schweren Stand, meint Der Standard:
„Erdoğan kennt die Rezepte, wie man die Kontrolle über Presse, Justiz, Polizei und die Armee erringt und dann all das nutzt, um endlos an der Macht zu bleiben. … Am Ende entscheidet nicht die Zahl der Demonstranten, sondern die Loyalität der engsten Mitstreiter und vor allem der Armee, ob die Diktatoren oder die Massen gewinnen. Das haben die meisten Machthaber gelernt und dafür gesorgt, dass die eigenen Reihen geschlossen bleiben. Interventionen von außen, etwa von der EU, nützen nur selten etwas und können sogar schaden, wenn sie der Propaganda Vorschub leisten, die Opposition werde von fremden Mächten gesteuert.“
Imamoğlu zum Nationalhelden gemacht
Mit der Festnahme hat Erdoğan ein Eigentor geschossen, glaubt news.bg:
„Wahrscheinlich dachte Erdoğan, dass seine Machtposition stabil genug ist, um die mögliche Unzufriedenheit abzuwehren, die sein riskantes Vorgehen mit sich bringen würde. ... Es ist schwer vorstellbar, dass sich die Verhaftung Imamoğlus nicht positiv auf dessen Unterstützungswerte auswirken wird, ganz nach dem Beispiel Erdoğans, der 1999 als Bürgermeister von Istanbul ins Gefängnis ging und als Nationalheld wieder herauskam. ... Solange Imamoğlu nicht in letzter Instanz verurteilt ist, kann er auch von seiner Gefängniszelle aus bei den Präsidentschaftswahlen kandidieren.“
Die Proteste wirken schon
Die Protestbewegung wird dann eine Chance haben, wenn bei den Staatsbediensteten Zweifel an Erdoğan einsetzen, analysiert der Türkei-Korrespondent der Süddeutschen Zeitung, Raphael Geiger:
„Erdoğans Medien und seine Propagandisten in den sozialen Medien wissen das und geben sich größte Mühe, die angebliche Korruption im Istanbuler Rathaus zu beweisen, mit immer neuen Vorwürfen. Es soll unbedingt den Anschein haben, als wären hier legitime Justizverfahren im Gange. ... Halten die Menschen auf den Straßen durch und zweifeln auch erste Erdoğan-Anhänger daran, ob dessen Macht noch auf Recht und Gesetz basiert, spüren sie, dass Erdoğan nicht mehr der Staat ist, der er vorgibt zu sein. Dann wird es für ihn gefährlich. ... Der Glaube daran ist das Erste, was die Proteste erreicht haben.“
Die Türkei unterstützen heißt die Opposition unterstützen
Für La Croix ist klar, welche Reaktion Europa zeigen sollte:
„Erdoğan zeigt seinen Willen, die Türkei zu entwestlichen. … Er ist der Ansicht, dass sein Land nur seiner eigenen Geschichte, seiner eigenen Kultur und seinen eigenen Interessen vertrauen sollte. ... Für die europäischen Staaten wird das türkische Dilemma immer größer. Dieser mächtige Nachbar entfernt sich politisch immer weiter, bleibt aber gleichzeitig Nato-Mitglied und ein wichtiger Handelspartner, der sich auf eine sehr gut organisierte Diaspora stützt. Eine der Prioritäten ist daher die Unterstützung von Oppositionellen, die unseren Prinzipien und Werten nahestehen. Recep Tayyip Erdoğan ist zweifellos ein gefürchteter Politiker – aber er wird nicht ewig bleiben.“
Von wegen Redefreiheit
Wie Elon Musks X, das in der Türkei nach wie vor sehr populär ist, mit den staatlichen Behörden zusammenarbeitet, sorgt Polityka:
„Jedes Mal, wenn die Gerichte versuchen, das Unternehmen X zur Löschung von Konten zu zwingen, die zu Gewalt aufrufen, aber mit rechten Bewegungen in Verbindung stehen, lehnt Elon Musk kategorisch ab und beruft sich auf die Redefreiheit. ... Wenn der konservative Erdoğan aber die Opposition angreift, zögert Musk nicht lange, löscht die Konten und übergibt die Nutzerdaten an die Behörden. Die Türkei ist ein Lackmustest dafür, wie die Plattform in nicht-demokratischen Ländern funktioniert.“
Strategisch gewählter Zeitpunkt
Der türkische Präsident wittert nun die Chance, einen weiteren Gegenspieler loszuwerden, analysiert Český rozhlas:
„Eine Zeit, in der sein langjähriger Widersacher aus dem Exil Fethullah Gülen tot ist und ein anderer Gegner, der lebenslang inhaftierte Abdullah Öcalan, die kurdische PKK aufgefordert hat, ihre Waffen niederzulegen. Der Blick der Welt ist woandershin gerichtet, und die Türkei versucht, das Beste aus dem Regimewechsel in Syrien und möglicherweise auch anderswo in der weiteren Region zu machen. Es ist aber auch möglich, dass ein Teil der türkischen Gesellschaft diesen weiteren Versuch Erdoğans, die Demokratie auszutricksen, nicht durchgehen lässt.“
Erdoğan braucht westlichen Druck nicht zu fürchten
Allfällige Kritik aus Europa wird beim türkischen Präsidenten wohl verpuffen, meint die Frankfurter Allgemeine Zeitung:
„Erdoğan weiß, dass er für die Europäer als Partner unverzichtbar ist, in der Migrationspolitik, in Syrien und im Ukrainekrieg. Er muss daher nicht fürchten, von ihnen ernsthaft unter Druck gesetzt zu werden. Die Kritik der Bundesregierung und anderer europäischer Staaten wird ihn deshalb kaltlassen. Umso mehr, als Washington wissen ließ, man mische sich nicht in die inneren Angelegenheiten anderer Länder ein. So kann sich Erdoğan von Donald Trump ermutigt fühlen.“
Europa muss Rechtsstaat und Demokratie verteidigen
Das Argument, dass die EU wegen der militärischen Stärke der Türkei auf Erdoğan angewiesen sei, lässt De Volkskrant nicht gelten:
„Die EU muss nicht nur ihre Verteidigung stärken, sondern auch wissen, was sie verteidigt: die Demokratie mit ihrem Pluralismus und Rechtsstaat. Die Demokratie wird ohnehin schon von innen heraus angefressen durch Ungarn, die Slowakei sowie radikal- und extrem-rechte Parteien, die in vielen Mitgliedsstaten immer stärker werden. Europäische Demokraten werden immer einsamer in einer Welt, in der die Autokratie vorrückt. Daher muss die EU kämpfen, um die Demokratie und den Rechtsstaat in ihrem eigenen Teil der Welt zu verteidigen. Das heißt, dass ein Mann wie Erdoğan auf Distanz gehalten werden muss.“
Ein zweifelhafter Verbündeter
Der Politikwissenschaftler Ronald Meinardus analysiert auf To Vima:
„Die Zeichen deuten darauf hin, dass die umstrittene Vertiefung der Beziehungen zwischen der Türkei und der EU noch keine ausgemachte Sache ist. ... Um als Verbündeter in einer neuen europäischen Sicherheitsarchitektur angenommen zu werden, muss die Türkei zunächst ihre ambivalente Haltung gegenüber Moskau aufgeben und sich dem Aggressor Putin in Worten und Taten ausdrücklich widersetzen. Erdoğans Autoritarismus erschwert diese Annäherung an Europa zusätzlich. Die Verhaftung seines größten innenpolitischen Rivalen mag im Weißen Haus keine großen Proteste hervorrufen, aber für Europa, das weitgehend von liberal-demokratischen Werten geprägt ist, bleibt Erdogans Autoritarismus ein wichtiges Thema.“
In Putins Fußstapfen
Die Türkei erinnert immer mehr an einen autoritären Staat, betont Večernji list:
„Angesichts der Verhaftung des Istanbuler Bürgermeisters Ekrem Imamoğlu und der offenen Repression der Opposition erinnert die Türkei an das Russland von Wladimir Putin und an Belarus unter Alexander Lukaschenka. Wie sie überlässt Erdoğan nichts dem Zufall, die Gegner besiegt er nicht bei Wahlen, sondern eliminiert sie mit Hilfe von Gerichten und Haftstrafen. Oppositionsführer verlieren nicht nur politischen Einfluss, sondern werden Opfer inszenierter Gerichtsprozesse und ihre Anhänger von brutaler Polizeigewalt. Wie Putin nutzt Erdoğan die Justiz als Werkzeug gegen politische Rivalen. ... Die Türkei entfernt sich zusehends von der Demokratie und rückt dem Herrschaftsmodell von Russland und Belarus immer näher.“
Ein schlechtes Vorbild für die Welt
Die Vorgänge in der Türkei könnten Schule machen, befürchtet Népszava:
„Die Frage ist, ob die Türken, die auf die Wiederherstellung der Demokratie vertrauen, stark genug für den Widerstand sind oder die aktuellen Proteste wie die Demonstrationen im Gezi-Park 2013 enden werden, die schließlich von der Polizei aufgelöst wurden. ... Die aktuellen Vorgänge in der Türkei sind eine Warnung an die ganze Welt: Nach Budapest und Ankara könnten die politischen Führer in immer mehr Ländern noch mächtiger werden, da sie Washington nicht mehr fürchten müssen. Es ist zu befürchten, dass Erdoğan auch Viktor Orbán Tipps geben könnte, welche Tricks er gegen seinen größten politischen Rivalen, Péter Magyar, einsetzen kann.“