Urteil gegen Le Pen: Folgen für Europa?

Nach ihrer Verurteilung wegen Veruntreuung von EU-Geldern hat die Rechtspopulistin Marine Le Pen die französische Justiz scharf kritisiert und für das Wochenende zu Protesten aufgerufen. Die Entscheidung der Richter sei politisch motiviert und Millionen Franzosen empört, erklärte die Führungsfigur der Rechtsaußenpartei Rassemblement National. Kommentatoren sehen Auswirkungen über Frankreich hinaus.

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La Libre Belgique (BE) /

Eine dreifache Chance für den RN

Frankreichs extreme Rechte profitiert gleich mehrfach, beobachtet La Libre Belgique:

„Erstens verhindert die sofortige Umsetzung der Unwählbarkeit, dass dieser Schlag mitten in den Präsidentschaftswahlkampf 2027 fällt. Das verschafft dem RN Zeit, wieder zu neuen Kräften zu kommen. … Zweitens bietet das Urteil der extremen Rechten die historische Gelegenheit, endgültig das Kapitel der Familie Le Pen zu schließen – mit all den unmoralischen, skandalösen und peinlichen Seiten. Und schließlich bricht wie in den USA, Italien oder Rumänien ein 'Anti-Justiz'-Tsunami über Frankreich herein. Diese Gerichtsfälle bieten den Populisten die Gelegenheit, sich als Opfer darzustellen und ihre Sache – mit Unterstützung aus dem Kreml, von Elon Musk und europäischen Nationalisten – international zu verbreiten.“

Večernji list (HR) /

Niemand steht über dem Gesetz

Die Unterstützung der Wähler ist kein Persilschein, mahnt Večernji list:

„Die These, dass die Unterstützung der Wähler an den Urnen einen Politiker bei der Verantwortung für Gesetzesvergehen automatisch entlastet, ist einfach falsch, denn sie führt zu nichts Gutem. Doch ist diese These scheinbar verlockend in dieser Zeit, in der wir leben, einer Ära des Populismus, Trumpismus und modernen Nationalismus. .... Deshalb werden so viele Menschen auch glauben, Marine Le Pen sei in Wirklichkeit Opfer einer politisch-gerichtlichen Verschwörung. ... Doch so wie in der Demokratie gilt, dass Wähler praktisch jeden wählen können, so gilt auch, dass es keine Unantastbaren gibt und die Ankläger dorthin gehen können, wohin sie die Beweise führen, ohne Furcht, sollten sie dabei auf ein politisch hohes Tier stoßen.“

Politiken (DK) /

Letzte Instanz bleibt die Wahlurne

Für Politiken ist der Kampf nicht ausgestanden:

„Es gibt zwar keine Hinweise darauf, dass die Strafanzeige, die Anklage der Staatsanwaltschaft oder die Entscheidung des Gerichts politisch motiviert waren. Dennoch könnte das Urteil von Le Pens Anhängern letztlich als politisch motiviert betrachtet werden. Donald Trump ist ein Beispiel dafür, dass ein angebliches juristisches Martyrium als Nährboden für spätere Wahlsiege dienen kann. Das Urteil gegen Marine Le Pen könnte sich für sie als Todesstoß erweisen, was sowohl im Interesse Frankreichs als auch ganz Europas zu hoffen ist. .... Aber die extreme Rechte muss in Frankreich und überall in letzter Instanz politisch und an der Wahlurne besiegt werden – nicht in Gerichtssälen.“

Tvnet (LV) /

Präzedenzfall mit Signalwirkung

Tvnet analysiert:

„Le Pens erzwungener Rücktritt erfolgt zu einem Zeitpunkt, an dem rechtsextreme Kräfte in ganz Europa sowohl in den Umfragen als auch im politischen Diskurs an Boden gewinnen. Die Wandlung des RN zu einer 'akzeptablen' konservativen Alternative im letzten Jahrzehnt diente ähnlichen Parteien als Vorbild – von Vox in Spanien über die AfD in Deutschland bis zur FPÖ in Österreich. Daher findet dieses Urteil auch über die Grenzen Frankreichs hinaus Resonanz – es ist ein Signal, dass eine Normalisierung keine Immunität garantiert. Gleichzeitig könnte das Urteil auch andernorts populistische Rhetorik verstärken, wo, wie auch in Frankreich, die Enttäuschung über die politische Elite und die Macht der Justiz zunimmt.“

Ewropeiska Prawda (UA) /

Radikalisierung wäre riskant für Ukraine

Das Urteil gegen Marine Le Pen könnte einen gefährlichen Prozess in Gang setzen, warnt Ewropeiska Prawda:

„Marine Le Pen hatte große Anstrengungen unternommen, ihre Partei vom Image der toxischen Radikalen zu befreien. Zum Beispiel auch durch die Anpassung der Positionen ihrer Partei in Bezug auf die Ukraine und Russland. Nur so konnte sie mit einem Sieg bei den Präsidentschaftswahlen rechnen. Doch nun könnte sich die Strategie ändern und eine Radikalisierung mit dem Versprechen, das gesamte derzeitige politische System 'niederzureißen', könnte einen Sieg wahrscheinlicher erscheinen lassen. Das wäre ein Weg, der sowohl für Frankreich selbst als auch für Europa und vor allem für die Ukraine als äußerst gefährlich erscheint.“

Svenska Dagbladet (SE) /

Formal richtig – und trotzdem falsch

Svenska Dagbladet hat grundlegende Probleme mit dem Urteil:

„Die Assistenten sind rechtlich nicht bei den Parlamentariern, sondern beim Parlament als Institution angestellt. Daher ist es ihnen beispielsweise untersagt, eine Rede zu schreiben, die nichts mit den Angelegenheiten des Parlaments zu tun hat. In der Praxis funktioniert das seit jeher – parteiunabhängig – nicht so. ... Vor diesem Hintergrund erscheint das Urteil etwas merkwürdig und zugleich unangemessen hart. ... Der Rechtslage zufolge ist das Urteil möglicherweise richtig. Doch wenn es dieser Rechtslage selbst an Legitimität mangelt und ihre Durchsetzung so enorme Konsequenzen hat, droht die Gleichheit vor dem Gesetz das demokratische System eher zu untergraben, statt zu stärken.“

The Guardian (GB) /

Harte Hand fordern und dann jammern

Das Urteil ist richtig, findet The Guardian:

„Das Gesetz ist eindeutig, und das Gericht war es auch, als es sein Urteil verkündete: keine Sonderbehandlung für Marine Le Pen, keine Rücksichtnahme auf die Mächtigen, keine Amtskandidatur als Vorwand, um ungestraft gegen das Gesetz zu verstoßen. ... Die extreme Rechte muss mit ihren Widersprüchen konfrontiert werden. Sie erzählt den Wählern, dass die Regierung voller korrupter Eliten ist oder dass Einwanderer Sozialleistungen stehlen – und hier sind Le Pen und 24 andere Mitglieder des Rassemblement National (RN), die wegen massiver Veruntreuung öffentlicher Gelder verurteilt wurden. Sie fordern von den Gerichten härtere Urteile und spielen dann das Opfer, wenn sie hart bestraft werden.“

Les Echos (FR) /

Die Justiz gießt Öl ins Feuer

Juristisch sauber, aber taktisch unklug, findet Les Echos:

„Die Justiz hat das Recht, dieses Urteil zu fällen. Aber musste sie wirklich so weit gehen und sich für die sofortige Gültigkeit der Unwählbarkeit entscheiden? Sie hatte einen Ermessensspielraum. So nährt sie den – wenn auch unbegründeten – Unmut von Millionen Franzosen gegenüber dem Rechtssystem und den Verdacht, dass die Richter die Kandidatin des RN gezielt ausschalten wollten. … Darüber hinaus macht dieses Ereignis die Strukturen des internationalen Bündnisses der Konservativen und der neuen Geopolitik sichtbar, das die liberalen Demokratien herausfordert. Der Kreml, Viktor Orbán, Elon Musk und Matteo Salvini gehörten zu den Ersten, die Marine Le Pen ihre Unterstützung aussprachen.“

Neue Zürcher Zeitung (CH) /

Rassemblement National wird profitieren

Die Neue Zürcher Zeitung schreibt den RN nicht ab, im Gegenteil:

„Le Pen weiss selbst, dass das Gerede vom 'politischen Tod' übertrieben ist. Sie ist 'erst' 56 Jahre alt, und die Partei hat inzwischen eine andere finanzielle Basis als vor zehn Jahren. Und sie hat in den letzten Jahren mit Jordan Bardella einen möglichen Ersatzkandidaten aufgebaut, auf den sie bis jetzt erheblichen Einfluss hat und der bei der Bevölkerung ebenfalls gut ankommt. Er wird die Erzählung, wonach man für das Volk gegen eine politische Elite kämpfe, verfestigen. Das wird die Popularität der Partei eher stärken.“

Tygodnik Powszechny (PL) /

Ersatzmann kann nicht mit viel Erfahrung punkten

Le Pens Ersatzmann Bardella dürfte in den Augen der Franzosen der schwächere Kandidat sein, meint Tygodnik Powszechny:

„Trotz seiner großen Beliebtheit in den sozialen Medien ist keineswegs sicher, ob Bardella auf so viel Unterstützung zählen kann wie Le Pen. Denn es stellt sich die Frage, ob die Franzosen in einer äußerst unsicheren geopolitischen Lage bereit sind, die oberste Entscheidungsgewalt in ihrem Land – einschließlich der Verfügung über den Einsatz französischer Atomwaffen – jemandem anzuvertrauen, der fast keine politische Erfahrung hat und als französischer 'Tik-Tok-König' gilt.“

Corriere del Ticino (CH) /

Scheinheilige Lehrmeister

Corriere del Ticino findet es bezeichnend, wer das Urteil nun als undemokratisch ablehnt:

„Die Tatsache, dass sich unter den Kritikern der französischen Justiz und der angeblichen Verletzung demokratischer Regeln Persönlichkeiten wie der Kreml-Sprecher Peskow, ein Vertreter eines diktatorischen Regimes, und der ungarische Ministerpräsident Orbán, der 2010 in seinem Land ein Gesetz zur Knebelung der Medien eingeführt hat, befinden, sagt viel über die Glaubwürdigkeit derjenigen aus, die den französischen Justizbehörden Lektionen in Sachen Demokratie erteilen wollen.“

Trud (BG) /

Eine übliche Praxis?

Le Pen sei nicht die Einzige, die EU-Mittel zweckentfremde, meint der Kolumnist und ehemalige Verbindungsbeauftragte der Rechtsaußen-Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformer, Krystian Szkwarek, in Trud:

„Es geht um EU-Gelder, mit denen die Gehälter von Mitarbeitern der Europaabgeordneten bezahlt wurden. Laut Anklage arbeiteten die betreffenden Personen nicht nur fürs Parlament, sondern auch für Le Pens Partei. ... Als jemand, der offiziell für das Europäische Parlament gearbeitet hat und die dortigen Praktiken aus erster Hand kennt, kann ich mit gutem Gewissen sagen, dass die oben genannten Praktiken absolut üblich sind. Die Abzweigung von EU-Mitteln durch Mitglieder des EU-Parlament für die Bedürfnisse ihrer [nationalen] Parteien ist eine gängige Praxis, die alle politischen Familien, Fraktionen und Parteien im EU-Parlament betrifft.“