Die Kuss-Affäre, Spanien und der Fußball
Luis Rubiales will Präsident des spanischen Fußballverbands RFEF bleiben, nachdem er Weltmeisterin Jenni Hermoso ungefragt auf den Mund geküsst hatte. Doch die Luft wird dünner: Die Fifa sperrte Rubiales vorläufig für 90 Tage und eröffnete ein Disziplinarverfahren. Und nach Premier Pedro Sánchez verurteilte nun auch der seinerseits umstrittene Frauen-Nationaltrainer Jorge Vilda das Verhalten öffentlich. Europas Presse ordnet ein.
Dieser Mann passt nicht ins 21. Jahrhundert
El Mundo empört sich darüber, wie viele Verfehlungen sich Rubiales schon leisten konnte:
„[Er] ist eine amoralische Figur, die sich der Verantwortung ihres Amt nicht bewusst ist. Bleibt er, wird er sich völlig ungestraft fühlen und dementsprechend verhalten. ... Sein Management ist voller Unregelmäßigkeiten und Interessenkonflikte: der Skandal um Millionenprovisionen für die Austragung des [spanischen] Supercups in Saudi-Arabien; eine Party mit Frauen auf einem Verbandstag; die Bespitzelung von Journalisten. ... Es muss sich noch viel im Verband ändern, bis er eine saubere Organisation wird. Und es muss noch viel Aufklärungsarbeit geleistet werden, damit der Fußball nicht länger Verhalten und Personen duldet, die in einer Gesellschaft des 21. Jahrhunderts keinen Platz haben.“
Fifa-Suspendierung ist Heuchelei
Für die taz darf es nicht allein um die Person Luis Rubiales gehen:
„Spielerinnen und Spieler als Eigentum des Verbands zu verstehen, gehört ganz zentral auch zum Selbstverständnis der Fifa-Funktionäre. Doch die stellen sich nun – beinah möchte man sagen: leider – nicht ganz so dumm an wie Rubiales. Hinterherdackelnd versucht der Weltverband, sich an die Spitze der Kritikbewegung zu stellen ... . Die Fifa hat nämlich begriffen, dass sie zur Verteidigung ihrer eigenen Macht gegen die aufbegehrenden Spielerinnen, die von der spanischen Zivilgesellschaft unterstützt werden, ein Bauernopfer erbringen muss. Wenn die Fifa auf diese billige Weise ihre Macht verteidigen könnte, wäre der große Erfolg, vor dem die kämpfenden Fußballerinnen gerade stehen, gefährdet.“
Der Fußball wird von Machos beherrscht
Der Standard ist entsetzt, dass sich nur so wenige Männer mit den Fußballerinnen solidarisieren:
„Der Protest blieb hauptsächlich weiblich. Dass sich nur wenige lobenswerte Einzelne solidarisieren, dass nur einige Teams zur Minimalgeste von bedruckten Aufwärmleibchen greifen, ja dass Rubiales glauben kann, mit seiner jenseitigen Angriffsrede vor der Verbandsversammlung samt Täter-Opfer-Umkehr durchzukommen, dass der europäische Fußballverband kein Wort zu den Taten seines Vizepräsidenten verliert, dass honorige Funktionäre wie Bayerns Karl-Heinz Rummenigge den Kuss 'absolut okay' finden – all das spricht Bände über das System Fußball.“
Aufschlussreiches Politikum
Die Affäre um Rubiales zeigt, wie sehr Spanien mit dem Feminismus ringt, analysiert De Standaard:
„Genau wie in vielen anderen Ländern wütet in Spanien ein Kulturkampf, befeuert von Männern, die nicht wissen, wie sie mit mündigen Frauen umgehen sollen. ... Partido Popular und Vox haben den Fall aufgegriffen - eine Entlassung wegen eines Kusses ist ein ideales Symbol in diesem Kulturkampf. Aber immer mehr bekannte Namen, Fußballmannschaften und Sponsoren distanzieren sich vom Vorsitzenden. Es wird interessant sein, zu verfolgen, ob Rubiales mit Schimpf und Schande weggejagt oder von einer politischen Partei aufgenommen wird, die mit seiner Opferrolle Stimmen gewinnen will. Erst dann wissen wir, wie weit der Feminismus in Spanien ist.“
Von Sport ist keine Rede mehr
Martin Komárek, dem Chefkommentator von Deník, geht die Debatte zu weit:
„Sexuelle Nötigung und jede Form des Missbrauchs von Macht oder sozialer Dominanz verdienen die schärfste Verurteilung. Und es stimmt, dass der Grat zwischen Flirten, Verführung, Provokation und Nötigung schmal ist. Allerdings sind die Reaktionen auf einen freudigen Kuss hysterisch. Jeder, der Augen hat, kann das sehen. Aber die Empörten werden ihm widersprechen: Wissen Sie, wo Vergewaltigung beginnt? - Die Antwort ist ganz einfach. Wenn die Fußballerin Rubiales eine Ohrfeige gegeben hätte, wäre klar gewesen, dass sie sich über den Kuss auf den Mund ärgert. ... Man sollte den Leistungen auf dem Fußballplatz mehr verdiente Aufmerksamkeit schenken.“