Umsturz in Syrien: Migrationsdebatte in vollem Gange

Nach dem Sturz Assads haben mehrere europäische Staaten Asylverfahren von Syrern ausgesetzt und wollen ihre Politik gegenüber Flüchtlingen aus dem Land überdenken. Rund sechs Millionen Menschen sind seit dem Ausbruch des Bürgerkriegs 2011 aus Syrien geflüchtet. Kommentaren stellen infrage, ob die Bedingungen für eine sichere Rückkehr gegeben sind und ob das die Debatte ist, die Europa jetzt führen sollte.

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La Stampa (IT) /

Was für ein Zynismus

La Stampa ist empört:

„Das Regime von Baschar al-Assad ist seit 48 Stunden gestürzt, ein Dschihadist namens al-Dschaulani ist triumphal in Damaskus eingezogen und was ist das Erste, worüber Europa sich Sorgen macht? Nicht der Lebenslauf des neuen Führers, nicht die Destabilisierung, die in der Region droht. ... Nein, das Problem der großen europäischen Staaten sind die syrischen Migranten, die innerhalb unserer Grenzen leben. ... In nur wenigen Stunden hat der Zynismus der Europäer jenen Moment des kollektiven Stolzes ausgelöscht, den Merkels berühmter Satz 2015 'Wir schaffen das' vor dem ersten Exodus der Syrer darstellte.“

Jutarnji list (HR) /

Zukunft der Syrer interessiert hier niemanden

Wie sehr die Migrationsdebatte den Diskurs dominiert, ist auch für Jutarnji list vielsagend:

„Ob demokratische Werte und Menschenrechte nach Assad geachtet werden, interessiert die EU – und auch die USA – gerade am wenigsten. Und selbst wenn man sich dafür interessiert, dann nur, weil sich daraus die Möglichkeit der Rückkehr von Flüchtlingen und eines Asyl-Stopps für Syrer ergibt. Demokratische Werte und Menschenrechte sind für den Westen keine wichtigen Kriterien der Außenpolitik mehr. Während die USA dies öffentlich sagen, sagt es die EU zwar nicht, benimmt sich jedoch genauso. Sollten die Dinge in Syrien jedoch schief gehen, was nicht unmöglich ist, wenn man sich Afghanistan nach dem schäbigen Rückzug der USA und EU aus dem Land ansieht, aber auch Libyen und teilweise den Irak, dann ist neues Chaos in dem Land nicht ausgeschlossen. Und dann wird auch die EU den Preis dafür bezahlen.“

Dnevnik (SI) /

Die ersten Anzeichen machen Hoffnung

Dnevnik zeigt sich vorsichtig zuversichtlich:

„Der erste Tag im neuen Syrien war zumindest kein schlechtes Omen für die Zukunft. Die Zusicherungen der islamistischen HTS, dass es keine Repressalien gegen Soldaten und Behördenvertreter geben werde, könnten ein guter Anfang sein, um zu verhindern, dass die Zeit nach dem Assad-Regime in Chaos ausartet. ... Auch die Einbindung von Mitgliedern des Vorgängerregimes in den Übergang könnte erfolgversprechend sein. Dass es vor den Grenzen Syriens lange Schlangen von Menschen gibt, die nach Hause wollen, ist ein guter Indikator für Vertrauen und Hoffnung. Dabei darf man jedoch nicht übersehen, dass die anfängliche Euphorie schnell verfliegen kann. Die Geschichten aus Libyen, Ägypten und Tunesien zeigen, wie zerbrechlich Gesellschaften nach dem Sturz langjähriger Tyrannen sind und wie schnell sie in einem neuen Bürgerkrieg versinken können.“

Der Standard (AT) /

Europa sollte sich gedulden

Das kriegsgebeutelte Syrien ist für eine Rückkehr der Flüchtlinge noch nicht bereit, meint Der Standard:

„Es stimmt, dass mit dem Sturz von Bashar al-Assad für viele anerkannte Flüchtlinge der ursprüngliche Asylgrund wegfällt. Wenn es im Land tatsächlich zum Frieden kommt, dann wird auch kein subsidiärer Schutz mehr benötigt. Aber nach Jahren des Bürgerkriegs und einer katastrophalen Wirtschaftslage ist die Kapazität vieler syrischer Städte und Dörfer gering, eine große Zahl von Rückkehrern aufzunehmen. Und es gibt welche, die viel dringender das Leben auf der Flucht beenden müssten als die Syrerinnen und Syrer im sicheren Europa.“

Le Figaro (FR) /

Besser Islamisten unterstützen als Chaos

Für Europa bietet sich derzeit keine wirkliche Alternative, konstatiert Le Figaro:

„Um den Forderungen nach Sicherheit und Eindämmung des Flüchtlingsdrucks nachzukommen, haben die europäischen Regierenden keine andere Karte in der Hand als die HTS: eine islamistische Gruppe, die eine Agenda für Syrien sowie ihren Bruch mit dem globalen Dschihad bekundet. Nicht ideal, so viel ist gewiss, aber immer noch besser als Chaos. Wenn [HTS-Führer] Abu Muhammad al-Dschaulani dabei scheitert, das Land zu 'halten', kann man sicher sein, dass Flüchtlingsströme und Attentatsdrohungen sich wieder Richtung Europa wenden. Realistisch betrachtet ist es keine echte Entscheidung, ihm eine Chance zu geben.“

In (GR) /

Hilfe leisten ist der erste Schritt

Auch wer weniger Syrer in Europa möchte, sollte sich zuerst für Stabilität vor Ort einsetzen, betont In:

„Die internationale Gemeinschaft sollte zu einem reibungslosen politischen Übergang beitragen, der demokratische Prozesse, garantierte Bürgerrechte und natürlich einen Beitrag zum Wiederaufbau eines Landes beinhaltet. ... Dabei sollte man sich stets vom Willen des Volkes leiten lassen, nicht von Berechnungen, wie sie das Land zu einem geopolitischen Konfliktfeld gemacht haben. Vergessen wir nicht, dass wir im Falle eines Rückfalls Syriens in einen internen Konflikt als Erstes eine neue Flüchtlingswelle erleben würden, und das zu einem Zeitpunkt, an dem vielleicht zum ersten Mal die Voraussetzungen für die Rückkehr von Millionen von Flüchtlingen in ihre Heimat geschaffen werden.“

Zeit Online (DE) /

Unfreundlich und realitätsfremd

Wer jetzt Rückführungen fordert, hängt migrationspolitisch in der Vergangenheit fest, empört sich Zeit Online:

„Dieses alternde Land ist dringend auf Zuwanderung angewiesen: Schon heute fehlen 400.000 Arbeitskräfte jährlich, wenn wir das Arbeitskräftepotenzial langfristig stabil halten und damit unser aller Wohlstand absichern wollen. Wer nun nichts anderes zu tun hat, als unmittelbar nach einem politischen Umsturz reflexartig die Rückkehr von Menschen zu fordern, agiert nicht nur unfreundlich gegenüber denen, die schon hier sind und ihren Beitrag zu unserer Gesellschaft leisten. Er unterwandert zudem das Ziel, Deutschland auch für die Menschen aus anderen Ländern attraktiv zu machen, die noch nicht hier sind. Die wir aber dringend brauchen.“

Salzburger Nachrichten (AT) /

Einmalige Chance

Die Salzburger Nachrichten sehen jetzt die Möglichkeit für eine Heimkehr syrischer Flüchtlinge – sofern es dafür genug Unterstützung gibt:

„Auf diesen Erfolg gilt es jetzt aufzubauen: Fast sechs Millionen syrische Flüchtlinge leben unter meist entsetzlichen Bedingungen in Jordanien, der Türkei und im Libanon. Weitere zwei Millionen Syrer leben in Europa. In Syrien gelten fast vier Millionen Menschen als sogenannte Binnenflüchtlinge. Sie könnten in absehbarer Zeit in ihre Dörfer und Städte zurückkehren, wenn im Rahmen einer großen internationalen Kraftanstrengung dem Land die Milliarden für den Wiederaufbau zur Verfügung gestellt werden. Diese Chance darf jetzt nicht vertan werden. Denn sie wird vermutlich nicht wiederkommen.“

Večernji list (HR) /

Das Land muss eine Lebensgrundlage bieten

Die Rückkehr einer großen Zahl syrischer Flüchtlinge steht noch nicht zur Debatte, findet Večernji list:

„Eine massenhafte Rückkehr wird nur möglich, wenn der Fall des Regimes von Assad auch das Ende des Bürgerkrieges in Syrien bedeutet, was momentan noch nicht sicher ist. ... Eine Rückkehr der Flüchtlinge wird auch vom Charakter der zukünftigen Regierung abhängen, denn die Syrer werden sicherlich nicht in ein Land zurückkehren, in dem ihre Freiheit und Rechte begrenzt sein werden. Außerdem ist Syrien momentan ein zerstörtes Land ohne eine für ein normales Leben unumgängliche Infrastruktur. Ohne bedeutende Investitionen in den Wiederaufbau wird die Rückkehr für viele Syrer beim besten Willen unmöglich sein.“

Stuttgarter Zeitung (DE) /

Rechtspopulisten den Wind aus den Segeln nehmen

Auch für Europa könnte ein neues Kapitel beginnen, meint die Stuttgarter Zeitung:

„Für Europa ergibt sich ... eine neue Chance, sich im Nahen Osten Gehör zu verschaffen. Während die USA, wie vom designierten Präsidenten Donald Trump angekündigt, ihr Engagement in Syrien weiter herunterfahren wollen, kann die EU mit Geld für den Wiederaufbau die neue Regierung in Damaskus unterstützen und eine geregelte Rückkehr von Flüchtlingen organisieren. Das könnte den Aufstieg der Rechtspopulisten bremsen oder sogar stoppen. In diesem Fall würde die syrische Revolution sogar Europa verändern.“