Freisprüche nach Rotschlamm-Unglück in Ungarn
Gut fünf Jahre nach der Umweltkatastrophe nahe der ungarischen Stadt Ajka hat ein Gericht alle 15 Angeklagten freigesprochen. Bei dem Unglück war sogenannter Rotschlamm aus dem Auffangbecken einer Aluminiumfabrik ausgetreten. Gegen das Urteil gab es Proteste - was einige Kommentatoren verstehen können, andere nicht.
Natürlich war es menschliches Versagen
Obwohl alle 15 Angeklagten von einem Gericht in erster Instanz freigesprochen wurden, gibt es für die linksliberale Tageszeitung Népszabadság dennoch Verantwortliche für das Unglück im Oktober 2010:
„Trotz des Urteils ist von menschlichem Versagen auszugehen. In Ajka hat sich keine Naturkatastrophe ereignet: Der Rotschlamm wurde weder von einem Erdbeben noch von einem Tsunami in Bewegung gesetzt. Auch ein Terroranschlag dürfte auszuschließen sein. Das Auffangbecken ist Teil eines industriellen Komplexes. Bei Industriekatastrophen ist es aber nun mal so, dass es Verantwortliche gibt. Irgendwer hat einen Fehler begangen. ... Verantwortliche sind wohl in jenem Personenkreis zu suchen, die das Auffangbecken seinerzeit entwarfen und seinen Standort wählten. ... Nur dass seither Jahrzehnte vergangen sind. Die Verantwortlichen leben entweder nicht mehr oder die Strafbarkeit ist verjährt.“
Leid der Opfer ist unvergessen
Unzufrieden nicht nur mit dem Gerichtsurteil, sondern auch mit der Reaktion auf die Katastrophe, die im Oktober 2010 nahe der zentralungarischen Stadt Ajka zehn Todesopfer gefordert hat, zeigt sich der Kommentator der Regionalzeitung Kisalföld, Attila Cséfalvay:
„Es würde mich interessieren, was die Angehörigen der Todesopfer zu diesem Urteil sagen. ... Ich kann nicht verstehen, warum es für eine solch gefährliche Unternehmung wie die Lagerung von Rotschlamm keine verpflichtenden Kontrollen hinsichtlich der Statik und des Untergrunds gab. Und ich kann mich erinnern, dass nach der Tragödie von Ajka zwei andere Rotschlammauffanglager in Ungarn sofort überprüft wurden. Warum erst so spät? Die Leidtragenden der Katastrophe indes können bis heute nicht vergessen, wie eine junge Frau mit ihrem 14 Monate alten Kind auf dem Arm und ein ihr zur Hilfe eilender Mann in der Rotschlammflut versanken und ertranken.“
Justiz beugt sich zu Recht nicht dem Volkswillen
Viele Ungarn sind mit dem Urteil unzufrieden, weil keine Verantwortlichen für den Giftschlamm-Unfall benannt wurden. Die Justiz hat aber nicht die Aufgabe, Sündenböcke auszumachen, betont Publizist Tamás Lándori auf dem Meinungsportal Mandiner:
„Soll die Justiz nun Recht walten lassen oder soll sie für Genugtuung sorgen? Der Justiz gereicht es zum Nachteil, wenn ihr die Öffentlichkeit auf Grundlage von mangelhaften Informationen sagen will, wen sie zu verurteilen habe und mit welchem Strafmaß. ... 'So viel waren zehn Menschenleben wert?', fragte der Politiker der [rechtsradikalen] Partei Jobbik Lajos Kepli nach der Urteilsverkündung. ... Wir müssen entscheiden, ob wir nach einer Tragödie, die öffentliche Empörung hervorgerufen hat, nur Opfer sehen wollen, die hinter Gittern sitzen, oder eine Aufdeckung der wahren Ursachen. Im erstgenannten Fall sind Gerichte völlig überflüssig. Dann hätte das Volk noch am Tag der Katastrophe ein Urteil fällen können.“