Schweiz eröffnet längsten Tunnel der Welt
In der Schweiz ist am Mittwoch der Gotthard-Basistunnel eröffnet worden. Auf einer Länge von 57 Kilometern verbindet der elf Milliarden teure Jahrhundertbau das Kanton Tessin mit der Deutschschweiz. Von Tatendrang und wirtschaftlicher Weitsichtigkeit der Schweizer kann sich Europa eine Scheibe abschneiden, meinen einige Kommentatoren. Andere halten den Tunnel als Handelsroute für weniger wichtig.
EU kann sich ein Beispiel nehmen
Angesichts der enormen Leistung der Schweiz wirkt Europas Kleinmut noch erbärmlicher, findet Brüssel-Korrespondentin Adriana Cerretelli in Il Sole 24 Ore:
„Verglichen mit dem Tatendrang, der Weitsichtigkeit, dem Mut und der strategischen Zielrichtung anderer springt die Trägheit der Union ins Auge. Ihrem Wachstum mangelt es an Tempo, an Kraft und Investitionsbereitschaft. Stattdessen werden Mauern errichtet und protektionistische Gebaren gewinnt die Oberhand. ... Sicher, auch die Schweiz, die für den neuen Tunnel allein aufgekommen ist, lehnt auf egoistische Weise Einwanderung ab. ... Doch sie schafft es, auch die eigenen wirtschaftlichen und Handelsinteressen im Auge zu behalten. ... Die Schweiz hat sich auf den europäischen Binnenmarkt eingestellt. Es wäre an der Zeit, dass auch Europa aus seinem langen Schlaf erwacht und sich entschließt, sein großes Potential auszuschöpfen.“
Vorbildhafte Bürgerbeteiligung
Der Gotthard-Basistunnel ist ein Symbol für Bürgernähe, lobt die Süddeutsche Zeitung:
„Die Bürger wurden, wie üblich in der Schweiz bei solchen Projekten, frühzeitig ins Boot geholt. Sie durften mitreden, mitentscheiden, und sie stimmten den Plänen umso bereitwilliger zu, als es nicht nur um den Schutz ihrer Alpen ging, sondern um die Durchbohrung, die Bezwingung eines großen Mythos. Der Gotthard, dieses unwirtlich-graue Ensemble aus Gneis und Granit, Wasser- und Wetterscheide zwischen Nord und Süd, Trenn- und Verbindungslinie mehrerer Sprachen und Kulturen, symbolisiert letztlich auch die Schweiz als Ganzes. Hier liegt einer der Kraftorte Europas. ... Hoffentlich gelang es den Schweizern, den zur Eröffnung geladenen europäischen Staatsleuten ein wenig von der Klugheit und der Bürgernähe zu vermitteln, mit der sie solche Projekte angehen. Oder wäre in Deutschland oder Frankreich jemand auf die Idee gekommen, in die ersten beiden Züge, die durch den neuen Tunnel fuhren, ganz einfache Menschen zu setzen, keine Politiker, keine Honoratioren?“
Schweizer Vision noch unvollendet
Mit der Fertigstellung des Gotthard-Tunnels ist nur ein Teil der Schweizer Vision Realität geworden, analysiert Der Standard:
„Die Vision, dass noch mehr Menschen von der Straße auf die Schiene zu bewegen sind, könnte in der Schweiz durchaus eingelöst werden. Doch ein Vorbild für Österreich ist er deswegen leider ganz gewiss nicht. Denn dass die Schweizer auch ihre Güter von der Straße auf die Schiene bringen, verdanken sie einer rigiden Verkehrspolitik. Straßen werden bei Bedarf für den ausländischen Lkw-Verkehr gesperrt. Österreich hat diese Möglichkeit als EU-Mitglied nicht. ... Auch die Schweizer müssen erst zeigen, dass sie mit dem Tunnel die Straßen leerer und die Züge voller machen können. Was sie schon bewiesen haben: Sie bringen ihre Visionen auch auf den Boden. Die Bahn fährt.“
Tunnel liegt nicht mehr auf Haupthandelsroute
Der Gotthard-Basistunnel ist für Europas Handelsströme eher unbedeutend, meint der Tages-Anzeiger:
„Die meisten ehemaligen Ostblockstaaten sind der EU beigetreten. Damit einher ging nicht nur eine politisch oft schwierige Zusammenarbeit in Brüssel, sondern vor allem auch eine wirtschaftlich immer engere Verflechtung von Deutschland mit den ehemals handelspolitisch unwichtigen Nachbarn im Osten. So hat sich der Wert der deutschen Exporte nach Polen, im Kalten Krieg vergleichsweise unbedeutend, seit dem Jahr 2000 mehr als verdreifacht, während die deutschen Exporte nach Italien in den letzten Jahren gar zurückgingen. Heute sind die Handelsströme fast gleichwertig, und wenn man Ungarn, Tschechien und Russland dazunimmt, zeigt sich eine enorme Verschiebung der Gewichte. Fazit: War die Achse Deutschland-Italien noch vor 20 Jahren von zentraler Bedeutung, ist sie heute aus deutscher Sicht und nüchtern betrachtet ein wichtiger Nebenast. “