Wird Türkei mit Präsidialsystem zur Diktatur?
Seit Beginn der Woche debattiert das türkische Parlament über eine Verfassungsänderung zur Errichtung eines Präsidialsystems. Der Präsident wäre dann nicht nur Staatsoberhaupt sondern auch Regierungschef. Das Amt des Premiers würde abgeschafft. Kommentatoren sehen das Vorhaben der Regierungspartei AKP in unterschiedlichem Licht.
Schon die Abstimmung ist undemokratisch
In der Türkei fehlen die Bedingungen für eine demokratische Abstimmung über die Verfassungsreform, klagt Hürriyet Daily News:
„Am 9. Januar wurde rund 50 Zivilorganisationen inklusive der Anwaltskammer mit Polizeigewalt das Recht verwehrt, vor dem Parlament gegen die Verfassungsdebatte zu protestieren. Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Regierung auch in den nächsten Tagen keine Proteste erlauben wird, da das Parlament bis Ende Januar über jeden Artikel [der Verfassungsänderung] debattieren und abstimmen wird. Das zeigt uns, dass die wichtigste Verfassungsänderung der Türkei nicht frei diskutiert wird. Schlimmer noch, der anhaltende Ausnahmezustand wird weiterhin keine freien und gleichberechtigten Bedingungen für Oppositionsgruppen ermöglichen, die eine Kampagne gegen diesen Schritt führen wollen. Dass tödliche Terrorattacken landesweit Angst auslösen, ist ein weiterer entmutigender Faktor für eine gesunde soziale und politische Umgebung.“
Gewaltenteilung wird abgeschafft
Die Folgen einer möglichen Verfassungsänderung treiben Hürriyet kalte Schauer über den Rücken:
„Wenn diese Änderungen vom Parlament und in einem Referendum verabschiedet werden, würde die türkische Republik zu einem Ein-Parteien-Staat. Wir treten in eine Periode ein, in der die Gewaltenteilung abgeschafft wird und Legislative, Exekutive und Judikative in die Hand einer einzigen Person, in die des Präsidenten, gelegt werden. Das Parlament würde seine Befugnis, die Exekutive zu kontrollieren und zur Rechenschaft zu ziehen, vollkommen aufgeben. Das Land würde mit den vom Präsident erlassenen Dekreten regiert. Der Großteil des Verfassungsgerichtes, der Rat der Richter und Staatsanwälte und der höchsten Gerichte würden von einer einzigen Person ernannt. In Zeiten, in denen der Präsident den Ausnahmezustand ausruft, wird er auch Dekrete mit Gesetzesbindung erlassen können und das Land führen, ohne dass er das Parlament dazu braucht.“
Erdoğan müsste selbst für Fehler geradestehen
Das Präsidialsystem würde Erdoğan nicht nur Vorteile bringen, überlegt der Deutschlandfunk:
„Das - zumindest auf den ersten Blick - einzig Positive an der Machtkonzentration: Erdoğan kann künftige politische Fehlentwicklungen keinem Regierungschef mehr anlasten, den er im Zweifelsfall austauschen könnte. Er allein trägt die Verantwortung - zumindest rein formal. Es ist jedoch zu befürchten, dass Erdoğan mit Verantwortung auch in Zukunft genauso umgeht wie bisher: Für Gutes wie neue Bosporus-Brücken oder Tunnel lässt er sich feiern. ... Für negative Entwicklungen, wie etwa den Umsturzversuch, die schwächelnde Wirtschaft, den Absturz der türkischen Lira oder den Konflikt mit den Nachbarländern - gibt Erdoğan stets anderen die Schuld, vor allem dem sogenannten Westen. Warum sollte sich das durch die Verfassungsreform ändern?“
Autoritarismus statt Kemalismus
Sollte das türkische Parlament für die Einführung des Präsidialsystems stimmen, wäre die Türkei endgültig auf dem Weg in den Autoritarismus, meint die Berliner Zeitung:
„Die mehrtägige Aussprache über den Wechsel zu einem exekutiven Präsidialsystem nach der 'türkischen Art' des Staatschefs Recep Tayyip Erdoğan ist für den Westen bedeutsam. Denn damit entfernt sich die Türkei weiter von Europa und rückt nach Mittelasien, nach Russland und zu Wladimir Putin. Der Weg des Republikgründers Mustafa Kemal Atatürk, der die Türkei nach Westen, in die Moderne und die Nato führte, würde damit zum ersten Mal seit der Gründung der Republik 1923 verlassen werden. ... Eine Vorstellung von dem System kann man sich seit dem Ausnahmezustand verschaffen, der nach dem Putschversuch im Juli verhängt wurde. Erdoğan regiert mit Sonderdekreten, die seine Partei mit ihrer Mehrheit im Parlament absegnet. Die Legislative ist zur Abstimmungsmaschine degradiert, die Justiz zum Befehlsempfänger und die Geheimdienste zu Lakaien.“
Des Volkes Wille hat Priorität
Die Vorwürfe der größten Oppositionspartei CHP, die Türkei würde mit dem Präsidialsystem zur Diktatur, hält die regierungstreue Tageszeitung Star für ebenso haltlos wie respektlos:
„Was plant man, zu tun? Die Befugnisse des Premiers werden dem vom Volk direkt gewählten Präsidenten übertragen. Indem man das Premiersamt abschafft, fasst man die Exekutive zu einem Organ zusammen. Ein System, das darauf abzielt, die Krisen zu überwinden, die eine duale Exekutive hervorbringt und das durch einen vom Volk direkt gewählten Präsidenten geleitet wird, als Diktatur zu betrachten, hat wirklich einen bitteren Beigeschmack. Und die Behauptung, das Parlament würde dabei außen vor gelassen, ist eine grobe Verzerrung.“