Parlamentswahl: Europa blickt gebannt nach Italien
Umfragen zufolge könnte das Mitte-rechts-Bündnis von Berlusconis konservativer Forza Italia mit rechtsextremen Parteien als stärkste Kraft aus der italienischen Parlamentswahl am Sonntag hervorgehen. Das Movimento 5 Stelle könnte stärkste Einzelpartei werden. Kommentatoren zeigen sich entsetzt angesichts der wahrscheinlichen Regierungsbeteiligung von Populisten - doch eine Personalentscheidung in letzter Minute lässt sie hoffen.
Populismus wird reingewaschen
Die Populisten werden in jedem Fall auf der Regierungsbank sitzen, prophezeit Il Manifesto:
„Der Populismus ist in Italien weit verbreitet und genau genommen gibt es mindestens drei Varianten: die kryptofaschistische und rassistische Variante der Lega Nord und der Fratelli d'Italia, die digital-esoterische des Movimento 5 Stelle und die unternehmerisch-mediendominierende von Silvio Berlusconi. ... Sollte der rechte Populismus [das Mitte-rechts-Bündnis] die Wahl nicht für sich entscheiden, könnte genau das geschehen, was die Betroffenen munter bestreiten, obgleich ihnen niemand mehr glaubt. In der 'Notsituation' wird man eine Grenze zwischen gutem und bösem Populismus ziehen - wie unsinnig die wäre, muss man gar nicht erwähnen. Oder man wird so tun, als sei Berlusconi gar kein Populist, um so eine Regierung von Renzi mit Berlusconi zu ermöglichen.“
Tickende Zeitbombe für Europa
Der linke Publizist Jakub Majmurek warnt in Gazeta Wyborcza, dass Italiens Populisten eine ernsthafte Bedrohung für Europa darstellen:
„In den letzten Monaten haben das Movimento 5 Stelle und die Lega Nord ihre Forderung nach einem Referendum [über den Ausstieg aus der Eurozone] zwar nicht mehr formuliert, aber sie kann jederzeit wieder aufkommen. Nämlich dann, wenn sich die wirtschaftliche Situation in Italien verschlechtert. Deswegen ist das italienische Parlament mit einer starken Front der Populisten eine tickende Zeitbombe für ganz Europa - denn eine Eurozone ohne Italien hat keinen Sinn.“
Tajani ist der richtige Mann
Am Donnerstagabend hat EU-Parlamentspräsident Tajani gesagt, er sei bereit Italiens nächster Premier zu werden, sollte seine Partei, Berlusconis Forza Italia, stärkste Kraft werden. Für Diário de Noticias eine gute Entscheidung:
„Auf Tajani zu setzen verleiht dem Lager interne und externe Glaubwürdigkeit. Ganz im Gegensatz zu Matteo Salvini von der Lega Nord, der mit seiner Anti-Migrations- und Anti-Flüchtlingspolitik einige der 28 EU-Mitgliedsstaaten gehörig aus der Fassung bringt. ... Die Zukunft Italiens als viertgrößte Wirtschaft der EU (und drittgrößte nach dem Brexit) ist entscheidend für die Gestaltung der Union und eine stabile Lösung ist vorzuziehen. Und sei es mit einer großen Koalition von Berlusconi und Renzi.“
Die Würfel sind noch nicht gefallen
Die Politikwissenschaftlerin Tana Foarfa hält den Sieg der Populisten nicht für ausgemacht. Sie schreibt in Contributors:
„Italiens Wähler sind immer für eine Überraschung gut. Es ist möglich, dass wir eine Umkehr der euroskeptischen Strömung erleben, dass Bewegungen wie die Lega Nord (die immer gegen die EU war und im EU-Parlament mit Marine Le Pen alliierte) oder Movimento 5 Stelle (die ein Referendum für den Austritt aus der Eurozone forderte) abgestraft werden, angesichts ihres jüngsten Diskurswechsels. Selbst der ewige Berlusconi, ein Politiker, den viele Italiener wie rasend hassen und den ein anderer Teil immer wieder wählt, ist kein Garant für einen Sieg seiner Partei [Forza Italia]. Die Würfel sind noch nicht gefallen.“
Italien braucht unsere Solidarität
Dieses Land, in dem so viele Geflüchtete ankommen, verdient in jedem Fall die Solidarität Europas, konstatiert La Croix:
„Wie wir es von Italien gewohnt sind, ist das Schlimmste nicht ausgemacht. Das politische Leben dieses Landes ist derart komplex und unvorhersehbar, dass der aktuelle Regierungschef - aus dem Mitte-links-Lager - übermorgen noch immer im Amt sein könnte. Italiens europäische Partner werden sich in diesem Fall einen großen Erleichterungsseufzer erlauben. Sie würden aber einen schlimmen Fehler begehen, wenn sie es dabei belassen. Italien braucht nämlich die Solidarität des Rests der Europäischen Union, um zu den Charakterzügen zurückzufinden, für die wir es so lieben: zu seinem Schwung und seiner Heiterkeit.“
Der Wahnsinn geht weiter
In Italien weiß man noch, was Vergebung heißt, kommentiert der Schriftsteller und Kolumnist Hugo Camps in De Morgen den erfolgreichen Wiederaufstieg Silvio Berlusconis in der italienischen Politik:
„Über seine Verurteilung in einer Reihe von Prozessen wird nicht mehr gesprochen. Seine 'Bunga-Bunga'-Feste mit jungen Prostituierten haben seiner Stellung als Retter des Vaterlandes nicht geschadet. Im Gegenteil: Das italienische Testosteron-Syndikat war wahnsinnig stolz auf die virile Unternehmungslust des großen Fickers. ... In keinem anderen europäischen Staat hat die politische Klasse den Reichtum des Landes an Kultur, Industrie, Produkten, Mode und Design so systematisch verludern lassen wie hier. Die Banken stehen so schief wie der Turm von Pisa. ... Und jetzt will man wieder einen 81-jährigen, korrupten Hanswurst in Führung bringen? Der Wahnsinn geht weiter.“
Pest, Cholera oder Berlusconi
Warum Berlusconi bei dieser Wahl noch das geringste Übel wäre, erklärt Daily Sabah:
„Die beiden Parteien, die es Berlusconi alles andere als leicht machen, sind im Prinzip ein böser Bulle und ein noch böserer Bulle. Der erste ist das Movimento 5 Stelle, geführt vom 31-jährigen Luigi di Maio. Auf dem Papier gegründet als Anti-Korruptions-Bewegung von einem Komiker und wegen Totschlags verurteiltem Verbrecher (der daher nicht bei der Wahl antreten kann), hat sie sich zu einer italienischen Version des Trumpismus entwickelt. ... Der noch schlimmere Bulle ist die Lega Nord, angeführt von Matteo Salvini. … Er ist der modernste Faschist, den Italien seit Mussolini erlebt hat. ... Wird nun am Sonntag der Faschismus nach Italien zurückkehren? Das wahrscheinlich nicht, aber die Faschisten werden zweifellos einen Platz am Tisch bekommen.“
Die wichtigen Themen kommen nicht zur Sprache
Der Wahlkampf lenkt von den wahren Problemen des Landes ab, seufzt La Vanguardia:
„In einem Land mit einer Verschuldung von über 130 Prozent des BIP und einem bedrohten Bankensystem hätten die Bürger erwarten können, dass sich der Wahlkampf um entsprechende Lösungsvorschläge dreht. Zu den wichtigsten Wahlkampfthemen wurden stattdessen die Einwanderung - dank der verschiedenen, vom Populismus getriebenen Parteien, die zur Wahl stehen - sowie die Salve ebenso spektakulärer wie unrealistischer Wahlversprechen, mit denen man versucht, jene 30 Prozent der Wähler zu ködern, die laut Umfragen noch unentschlossen sind.“
Die Katastrophe wird ausbleiben
Die Angst vor unklaren Mehrheiten nach der Wahl hält die Tageszeitung Die Presse für übertrieben:
„Ähnliche Ausgangslagen gab es in der Vergangenheit zuhauf (zuletzt 2013), dafür gibt es kreative Lösungen: Man schmiedet Übergangsregierungen, paktiert mit Erzfeinden, setzt auf Überläufer. Wenn es wirklich brenzlig wird - wie vor dem Quasibankrott 2011 -, kommen meist die Expertenregierungen, die mit Notmaßnahmen das Feuer löschen. Italien wird auch diesmal wieder auf die Füße fallen, vielleicht wird es davor etwas turbulent und laut. In EU-Hauptstädten mag man erleichtert über diese stabile Instabilität all' italiana schmunzeln, über diesen kuriosen Patienten, der so geschickt am Rande des Abgrunds balanciert. Für junge Italiener ist das Spektakel weniger pittoresk. Viele kehren ihrer Heimat, die sich nicht sanieren lässt, den Rücken.“
Ein Land vor der Tragödie
Weit weniger optimistisch ist der Historiker und links-grüne Politiker Rui Tavares in Público:
„Das italienische Wahlgesetz begünstigt Koalitionen. Und deshalb bedeutet die Weigerung der linken Parteien, ihre Stimmen zusammenzulegen, de facto Berlusconi an die Macht zu bringen. Oder schlimmer: Berlusconis Verbündete. Vor ein paar Jahren noch hätte die Außenwelt diese Wahl mit dem ängstlichen Interesse derer verfolgt, die darin eine Entscheidung über die Zukunft Europas sehen. Heute aber verfolgt sie die Wahl eher mit dem morbiden Interesse derer, die sehen, wie sich ein Land im Kreis dreht. Aber die Geschichte wiederholt sich nie auf die gleiche Weise. Das eine Mal eine Tragödie, das andere Mal eine Farce, so die Hegelsche Philosophie. In Italien könnte es genau andersherum kommen: Dank Berlusconi gab es die Farce schon. Was bleibt, ist die Tragödie.“
Ein Populist will Populisten bekämpfen
Auch NRC Handelsblad befasst sich mit dem Phänomen Silvio Berlusconi:
„Viele Wähler sind wütend: über die stockende Wirtschaft, die enttäuschende Politik, die politische Klasse und die große Zahl der Migranten. Seinen Widerhall findet dies in der Unterstützung radikaler Alternativen. ... Bereits Anfang des Monats reiste Berlusconi mit der Botschaft nach Brüssel, er sei angesichts der schnell schwindenden Unterstützung für den regierenden Partito Democratico der einzige Garant gegen politische Abenteuer. ... Ein Paradox. Ausgerechnet der Mann, der noch 1994 als Prototyp des Populisten galt, will nun ein Schutzwall gegen diese Populisten sein.“
Die Revolutionäre werden Teil des Systems
Die Partei Movimento 5 Stelle hat dem Staatspräsidenten am Dienstag eine Liste ihres Schattenkabinetts geschickt. Etwas ungewöhnlich, spottet La Repubblica, doch steckt dahinter der Wunsch, sich zu etablieren:
„Die Bewegung will klar machen, dass sie nicht länger die Anti-System-Partei ist, wie sie von Grillo und Casaleggio Senior einst konzipiert wurde. Sie ist jetzt etwas anderes oder will es zumindest sein. Auch wenn unklar bleibt, was eigentlich genau. ... Offenkundig ist jedenfalls der Wunsch, in das politisch-institutionelle System aufgenommen zu werden, das man einst versprach, wie eine Sardinenbüchse aufzuhebeln. Die Revolution, sollte sie je begonnen haben, ist vorbei.“