Wo die Türkei fünf Jahre nach Gezi steht
Es war nur eine Aktion von Umweltschützern im Istanbuler Gezi-Park - doch sie mündete Ende Mai 2013 in einer landesweiten Protestwelle gegen die Regierung von Erdoğan. Manche Beobachter sehen einen Monat vor der Neuwahl in der Türkei die Stimmung von damals wieder aufleben. Wie bewerten türkische Medien die Situation?
Geist von Gezi sucht noch nach einem Körper
Die damaligen Forderungen nach mehr Demokratie spiegeln sich bis heute nicht in der türkischen Politik wider, klagt Artı Gerçek:
„Bei den Gezi-Protesten traten unterschiedliche gesellschaftliche Schichten, die man als apolitisch bezeichnen kann, in der Öffentlichkeit als politische Akteure auf. Doch obwohl seitdem fünf Jahre vergangen sind, konnte sich diese Politisierung bislang leider weder ausdrücken noch organisieren. Noch wichtiger: Keine der bestehenden Parteien vermochte, diese entstehende Politisierung richtig zu lesen und den Geist von Gezi aufzunehmen. ... Die Gründe für Gezi sind immer noch gegeben. Und die Türkei ist seit Gezi nicht demokratischer, sondern autoritärer geworden. ... Der Geist von Gezi schwebt auch im fünften Jahr noch über uns und sucht nach einem passenden Körper.“
Proteste haben die türkische Gesellschaft gespalten
Die Auswirkungen von Gezi für die Türkei waren fatal, findet die regierungstreue Kolumnistin Hilal Kaplan in Sabah:
„Gezi hatte zum Ziel, die Gesellschaft bis aufs Blut zu spalten und war darin erfolgreich. Die Schuld, dass unsere Jugend sich für diese Bösartigkeit aufgeopfert hat, liegt bei diesen Anstiftern. Seit Gezi hat sich eine Gesellschaftsschicht entwickelt, die sich politisch nur dadurch definiert, Erdoğan-Unterstützer zu hassen. Sie sind verwirrt - aber dabei stolz auf genau diese Verwirrtheit. ... Wir haben es Gezi zu verdanken, dass wir zu einer bedenklichen und verkrüppelten politischen Kultur verurteilt sind, die nichts bietet außer den Traum vom Sturz Erdoğans.“