Was entscheidet die Neuwahl in Großbritannien?
Das britische Unterhaus hat den Weg frei gemacht für die von Premier Johnson geforderte Neuwahl. Sie findet nun am 12. Dezember statt. Zuvor hatte die EU die Austrittsfrist bis Ende Januar verlängert. Damit war ein No-Deal-Brexit vom Tisch, so dass die Labour-Partei ihren Widerstand aufgab. Kommentatoren überlegen, wie die Wahl ausgehen könnte.
Brexit-Müdigkeit ist die große Unbekannte
Die Opposition sollte sich keine allzu großen Hoffnungen auf einen Wahlsieg machen, meint De Morgen:
„Statt seine Partei auf einen klaren Standpunkt einzuschwören, zögerte Jeremy Corbyn, während seine Abgeordneten einander widersprachen oder sich als Unabhängige darstellten. In England droht Labour jetzt, die pro-europäischen Wähler an die Lib-Dems, unter Führung des jungen, energischen Jo Swinson zu verlieren. ... Ob die Briten überhaupt zur Wahl gehen werden oder nicht, ob sie eine Protest-Stimme abgeben für allerlei Populisten, das wird die Schlüsselfrage sein, auf die Umfragen noch keine Antwort haben. Die 'Brexit fatigue' wird der unvorhersehbare Faktor bei den nächsten Wahlen.“
Grippewelle könnte den Ausschlag geben
Fokus spekuliert über mögliche andere Einflüsse auf das Wahlergebnis:
„Australien und der Rest der südlichen Hemisphäre haben im vergangenen Winter unter einer besonders schweren Grippewelle gelitten. Jetzt befürchten britische Ärzte, dass das Elend auf dem Weg nach Großbritannien ist. Wahrscheinlich hat die Grippe die Nation im Dezember im Griff. Die konservativen Wähler sind im Durchschnitt älter als die Wähler der Labour-Partei. Trotzdem kommen sie in der Regel eher in die Wahllokale, auch wenn das Wetter schlecht ist. ... Aufgrund des Alters sind sie jedoch häufiger von der Grippe betroffen. Was würde passieren, wenn die Epidemie in der ersten Dezemberwoche einsetzt? ... Warum sollte eine Wahl im Dezember nicht von der Grippe entschieden werden?“
Chance auf Neuanfang für die ganze EU
Auf einen Exit vom Brexit hofft Rzeczpospolita:
„Dreieinhalb Jahre nach dem von den Brexit-Anhängern gewonnenen Referendum steht dem Vereinigten Königreich nicht unbedingt eine Scheidung von der EU bevor. Es kann sich noch von ihr zurückziehen. Dies wird geschehen, wenn eine Koalition aus jenen Parteien die Wahl gewinnt, die sich für die Integration einsetzten: Labour, Liberale und die schottischen Nationalisten. ... Wenn die Briten im Dezember wirklich auf eine proeuropäische Regierung setzen, kann und wird dies keine Rückkehr ins Jahr 2016 sein. Vielmehr wäre es eine Einladung, die Beziehungen zwischen Brüssel und dem Vereinigten Königreich - und allen anderen Mitgliedstaaten - auf neuer Grundlage zu gestalten.“
Gute Aussichten für Konservative
Boris Johnson könnte als der große Sieger aus dem Wahlkampf hervorgehen, spekuliert The Irish Times:
„Dank der Eigentümlichkeiten des britischen Mehrheitswahlrechts ist nicht davon auszugehen, dass die Brexit-Party von Nigel Farage viele Sitze gewinnen wird - vielleicht auch gar keine. ... Die Konservativen wiederum können sich von einem Wahlkampf, der sich um den Brexit dreht, einiges erhoffen. Sie profitieren von einer klaren Botschaft, die der Labour Party fehlt. Boris Johnson darf als Wahlkämpfer nicht unterschätzt werden. Und wenn sie es kommunikativ richtig anstellen, können sie die Wähler dazu bringen, die Tories zu unterstützen, weil diese alles versuchten, um den Willen des Volkes durchzusetzen gegen jene auf der anderen Seite des Unterhauses, die das ständig verhindern wollen.“
Brexit-Fixierung wäre fatal
Vor der alleinigen Fokussierung von Politik und Wählern auf den Brexit warnt Financial Times:
„Der Brexit wird wohl dominieren, aber der Wahlkampf muss andere grundlegend wichtige Fragen zur Richtung beantworten, die Großbritannien in den nächsten fünf Jahren einschlagen soll. Das System der öffentlichen Dienstleistungen ist dermaßen überstrapaziert, dass ein Zusammenbruch droht. Im Gesundheitssystem zeichnet sich eine Winterkrise ab. Einige Versprechen der Labour Party, wie die Reduzierung der CO2-Emissionen Großbritanniens auf Null bis 2030, würden eine Umgestaltung der Wirtschaft erfordern. Es wäre ein Fehler, sich nur darauf zu konzentrieren, 'den Brexit umzusetzen'. ... Die Wähler verdienen eine ehrliche Kampagne, die die wirklich wichtigen Entscheidungen thematisiert, vor denen Großbritannien steht.“
Nach dem Berg folgen die Mühen der Ebene
Daran, dass der Brexit-Deal erst der Anfang ist, erinnert die Neue Zürcher Zeitung:
„[D]ie Hoffnung auf Normalität ist trügerisch. Denn mit dem Austritt ist das künftige Verhältnis zur EU noch lange nicht geregelt. Es müssen weitere mühsame Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen und Tausende von Detailfragen des künftigen Zusammenlebens mit der Union geklärt werden. Interessenkonflikte, Streit, Frustration und Unsicherheiten werden noch lange nicht vorbei sein. Darunter wird auch die Wirtschaft weiter leiden. Der Gewinner der Wahl ist kaum vorherzusagen. Wie auch immer die Wähler sich entscheiden werden. Es ist gut, dass sie endlich das Sagen haben. “