Frankreich: Weitere Proteste trotz Streikpause
Der Dauerstreik gegen die Rentenreform in Frankreich scheint vorerst unterbrochen: Am Wochenende kündigten mehrere große Gewerkschaften an, ab Montag eine Pause einzulegen. Kleinere, linkere Gewerkschaften und die Gelbwesten wollen allerdings weiter protestieren. Kommentatoren fragen sich, wer hier eigentlich warum auf die Straße geht.
Gewaltbereite Antikapitalisten ohne Geldsorgen
Die Proteste der Gelbwesten sind wieder in Gewalt umgeschlagen. E-vestnik fragt sich, wer eigentlich dahinter steckt:
„Es sind weder Eisenbahner noch Bauarbeiter und ganz sicher keine sozial Schwachen. Es handelt sich um heruntergekommene Intellektuelle, ewige Studenten, Anarchisten und Kommunisten - Bewunderer von Bakunin, Trotzki und Che Guevara. Sie halten sich selbst für die Avantgarde des 'Klassenkampfes'. Sie zerstören Ladenfenster und Geldautomaten und zünden Luxusrestaurants an. Vermummt liefern sie sich Kämpfe mit der Polizei. Die Reformen sind ihnen so gut wie egal, weil sie ganz offensichtlich nicht davon betroffen sind. Offenbar verfügen sie aber über Geldrücklagen, die ihnen ermöglichen, sich dem Kampf gegen den Kapitalismus zu widmen, anstatt jeden Morgen zur Arbeit zu gehen.“
Ein gutes System erlaubt Demonstrationen
Angesichts der Verhältnisse in Russland sieht Wedomosti die Proteste in Frankreich positiv:
„Zwar machen die Bereitschaft der Menschen zu Protesten und starke, unabhängige Gewerkschaften der Staatsmacht, den Ordnungshütern und den Arbeitgebern das Leben schwerer. Aber dafür erlaubt ein gutes politisches System wie das französische seinen Bürgern, ihre Unzufriedenheit offen und legal zu artikulieren und vom Staat wesentliche Zugeständnisse zu erzwingen - ohne Angst haben zu müssen, dass friedliche Proteste zu Massenunruhen erklärt werden, die Polizei wahllos Demonstranten festnimmt und die Gerichte sie hinter Gitter stecken.“
Realitätsferne Reformvorstellungen
Warum Macron mit seinen ursprünglichen Plänen gescheitert ist, erklärt Le Figaro:
„Die unzureichende Vorbereitung dieser Mutter aller Reformen, als die sie nun mal bezeichnet wurde, war der Ausgangsfehler. Sich vorzustellen, man könne wie von Zauberhand 42 Rentensysteme in einem einzigen zusammenfassen, war utopisch. Es war klar, dass jeder Einzelne sich mit Händen und Füßen wehren würde gegen Zugeständnisse bei Sonderbehandlungen, Traditionen und einst errungenen Rechten. Zudem kam es einer Realitätsverleugnung gleich, anfangs zu behaupten, dass keine Änderung des Renteneintrittsalters nötig sei, um die Finanzierung des Systems zu sichern. Dieses Wahlversprechen konnte niemanden täuschen, der sich unserer demografischen Entwicklung bewusst ist. … Daher die zweite Folgerung: Die Reform wird teuer, und das künftige System wird sicher nicht weniger undurchsichtig als das bisherige.“
Hoffnungslosigkeit nicht angebracht
Bei aller berechtigten Unzufriedenheit sollten die Franzosen auch auf etliche Stärken ihres Landes aufbauen, findet Kolumnist Aldo Cazzullo in Corriere della Sera:
„Frankreich weiß nicht, wer es ist, welche Rolle es in der Welt spielen soll; und vor allem versteht es nicht, warum die Präsidenten seit Jahren nur Opfer verlangen. … Das Nachkriegs-Frankreich war ein ärmeres Land als heute … Aber es war ein Land, das sich vom Weniger zum Mehr bewegte, nicht umgekehrt. Damals senkte Mitterrand das Rentenalter von 65 auf 60 Jahre. Heute ist die Unzufriedenheit so groß, dass die positiven Aspekte nicht mehr gesehen werden: ein Staat, der funktioniert, ein öffentliches Gesundheitssystem, das nach wie vor zu den besten gehört und eine demografische Entwicklung, die weitaus lebhafter als die italienische und deutsche ist. Es ist nicht alles verloren.“
Einknicken war ein Fehler
Die französische Regierung hätte bei der Rentenreform keinen Rückzieher machen dürfen, kritisiert Helsingin Sanomat:
„Wie schon viele ihrer Vorgänger gibt die französische Regierung in einer Sache nach, in der sie nicht nachgeben dürfte. … Als die Gelbwesten mit Geld ruhig gestellt wurden, hatte Frankreich den Plan aufgegeben, die zu hohen Ausgaben in diesem und im nächsten Jahr auszugleichen. Jetzt wird auch der Versuch aufgegeben, die Ausgaben langfristig in den Griff zu bekommen. In der Eurozone sind die Angelegenheiten der anderen auch unsere Angelegenheiten. Reformen, die das Rentensystem stärken, gehören zu den strukturellen Reformen, die die Euroländer durchführen sollten, damit die Eurozone in Zukunft besser funktioniert als bisher.“
Der Arbeitskampf wird weitergehen
Für Evrensel hingegen gehen die Zugeständnisse nicht weit genug:
„Unter dem Etikett 'Reform' sollte das Rentenalter erhöht werden, und Macron hat diesen Prozess im Namen des Kapitals ausgelöst. Seit September antwortet die Arbeiterklasse auf die Angriffe der Bourgeoisie mit massiven Generalstreiks und Protesten, noch vehementer als 1995. ... Sogar die Gewerkschaften haben sich zusammengetan. Auch die regierungsnahe CFDT musste wegen des Drucks von unten mitmachen. ... Und am Ende haben sie gesiegt. Premier Philippe hat vorübergehend die Erhöhung des Rentenalters von 62 auf 64 Jahre gestoppt und musste ankündigen, die 'Reform' im Rahmen einer Konferenz zu diskutieren. Vollständig zurückgenommen wurde das Gesetz aber nicht. Die Arbeiterklasse hat sich denn auch nicht zurückgezogen. Die Streiks und Proteste werden weiter gehen.“