Vor den Brexit-Verhandlungen: EU unter Druck
Nach dem Austritt Großbritanniens aus der EU bringen sich beide Seiten in Stellung für die Verhandlungen über ein Handelsabkommen. Boris Johnson ließ wissen, dass London sich nicht vertraglich zu bestimmten Standards verpflichten wolle. Ursula von der Leyen betonte, dass es keinen "Freifahrtschein in den Binnenmarkt" geben werde. Kommentatoren fragen sich, wie die EU sich nun positionieren sollte.
Nagelprobe für die neue Kommission
Nun wird sich herausstellen, ob die EU wirklich "weltpolitikfähig" ist, erklärt Die Presse:
„[V]or dem Europaparlament skizzierte [Ursula von der Leyen] ihre Vision für Europa im Jahr 2050: 'Es wird eine digitale Weltmacht sein. Es wird bei der Lösung der großen Fragen der Weltpolitik eine Führungsrolle übernehmen.' Gut gebrüllt. Und gewiss gibt von der Leyen hiermit die Ambitionen der Staats- und Regierungschefs wieder. Denn von ihnen wurde sie auf den Schild gehoben. Bloß: Macht klug handzuhaben heißt auch, für diese, wie von der Leyen sagt, 'geopolitische' Kommission, geschickte Allianzen zu bauen. Die allererste und wichtigste ist die mit der demokratischen, freisinnigen Nuklearmacht 30 Kilometer vor der eigenen Küste.“
Brüssel mangelt es an Selbstbewusstsein
Die Briten gehen aus gutem Grund auf Distanz zur EU, findet die Neue Zürcher Zeitung:
„Der Brexit soll nach dem Kalkül von Brüssels zentralistischen Machtpolitikern ... scheitern, um zweifelnde Mitgliedländer vor Nachahmung abzuschrecken. So argumentiert keine starke und selbstbewusste Union, sondern ein Bündnis, das Angst um die eigene Zukunft hat. Warum stellt sich Brüssel nicht der Herausforderung eines unabhängigen Grossbritannien, das im Wettbewerb der Systeme erst noch beweisen müsste, ob es dadurch stärker oder schwächer wird? Warum begleitet die EU nicht das Experiment des britischen Alleingangs mit Interesse, weil sie davon vielleicht für sich selbst etwas lernen und stärker werden könnte? Weil die EU-Führung selbst nicht in die eigene Stärke und Attraktivität vertraut. Dem Muskelspiel einer derart verängstigten Union widersetzt sich London zu Recht.“
Der EU fehlt die Utopie
Auch für Kolumnist Ferruccio de Bortoli zeigt der Brexit ein Defizit der EU auf. Er schreibt in Corriere del Ticino:
„Die in ihrer sozialen Rolle geschwächte Mittelschicht und die von Produktionsverlagerungen und der Konkurrenz durch Immigranten bedrohten Arbeiterklassen haben eine starke und verständliche Nostalgie für die Vergangenheit. ... Es wäre ein großer Fehler, diesen Stimmungswechsel - der nicht nur im Vereinigten Königreich, sondern ein wenig in allen westlichen Demokratien zu beobachten ist - mit der Fülle falscher Informationen, die im Internet kursieren, und der skrupellosen Nutzung sozialer Netzwerke zu erklären. Der Brexit lehrt, dass selbst in der vernetzten Welt die Notwendigkeit besteht, zu träumen, sich an eine Utopie zu klammern. Und genau das ist es, was der europäischen föderalistischen Idee heute fehlt.“
Vielleicht nicht der letzte Exit
Der Brexit wird die Brüche innerhalb der Union nicht verwischen, glaubt Azonnali:
„Viele EU-Freunde haben gehofft, dass der Austritt Großbritanniens die EU enger zusammenhalten lässt. Diese Entwicklung ist aber nicht festzustellen: Die Frontlinien bleiben bestehen, nur dass jetzt andere Londons Rolle übernehmen könnten, das den Zentralismus immer wieder blockiert hat - zum Beispiel Wien oder Den Haag. ... Inzwischen sieht Paris die Chance darauf, in Napoleons Fußstapfen eine EU zu leiten, die es lieber verkleinern als erweitern würde. Die europäische Politik wird von denselben Interessen und Unterschieden geprägt wie vor Londons Austritt. Egal, wie unvorstellbar dies heute scheint: Es ist nicht sicher, dass der Brexit der letzte Exit war.“