Wie sehr polarisiert der Wahlkampf die USA?
Der demokratische US-Präsidentschaftskandidat Joe Biden zieht mit dem Versprechen in den Wahlkampf, das Land wieder zu einen. Dabei beschrieb er in seiner Rede auf dem Parteitag der Demokraten vergangene Woche die Trump-Jahre als "Kapitel der Finsternis". Kommentatoren diskutieren, ob Biden damit den richtigen Ton getroffen hat.
Anstand als politische Agenda
Joe Biden setzt auf gute Umgangsformen statt politischer Inhalte, meint Der Standard:
„Ganz bewusst zieht der 77-jährige Politikveteran nicht mit einer Fülle konkreter Reformpläne in diesen Wahlkampf. Er selbst ist ein flexibler Pragmatiker ohne ausgeprägte Ideologie, und seine Strategen wollen verhindern, dass er von Trump in ein linkes Eck gestellt werden kann. ... Wenn Biden mit seinem Charakterwahlkampf Trump niederringt, dann hätte das Signalwirkung über die USA hinaus. Anders als im 20. Jahrhundert ist die heutige Politik vielerorts nicht mehr von totalitären Ideologien geprägt, sondern von der Instrumentalisierung des Hasses für die Eroberung und den Erhalt der Macht. In dieser Reihe opportunistischer Gewaltmenschen steht auch Trump. Wenn er einem Mann unterliegt, dessen größte Stärke die Menschlichkeit ist, dann gibt das auch in anderen Staaten Grund zur Hoffnung.“
Vom Ende der Politik
Dass die Demokraten die Wahl zum Kampf des Guten gegen das Böse stilisieren, missfällt dem Tagesspiegel:
„Die Demokraten haben wie Trump den Raum des konkret Politischen verlassen und sind ihm in den 'Mythos-Modus' gefolgt. In diesem Modus ist Politik als das mühsame Verhandeln über den Ausgleich konkreter Interessen irrelevant. ... [F]ür die Demokraten ist der Mythos nun zunächst ein Vorteil, weil er ihnen hilft, die Reihen zu schließen. ... Auf die Dauer aber ist der 'mythologische Modus' für die Demokratie gefährlich. Das Vertreten legitimer Interessen und abweichender Meinungen ist die Essenz der Politik, ein gesunder Modus ist die Verhandlung. Im 'Mythos-Modus' aber wird schon der Versuch zu Verhandeln zum Verrat. Der mythologische Modus bedeutet das Ende von Politik.“
Trump wird alle Register ziehen
Gerade weil Joe Biden gute Chancen hat, dürfte Trumps Wahlkampf alles andere als fair werden, prophezeit der frühere US-Botschafter in Italien, David Thorne, in La Repubblica:
„Machen wir uns also bereit auf Peitschenhiebe von Trump auf dem Parteitag, wenn er sein Bestes tun wird, um Biden zu diskreditieren. ... Bereiten wir uns auf Debatten vor, in denen der scheidende Präsident alle Register ziehen wird, um Biden zu schwächen. ... Vieles könnte noch schief gehen. Angefangen beim Wahlbetrug. Es scheint, dass der republikanische Präsident und seine Partei zu dem Schluss gekommen sind, dass die einzige Chance auf einen Sieg darin besteht, in den Wahlprozess mit multiplen Taktiken einzugreifen. Etwa die Ernennung eines politischen Freundes [Louis DeJoy] zum Post-Chef, um die Briefwahl zu sabotieren.“
Tragikomisch und kreuzgefährlich
Für Jyllands-Posten hat der beginnende Wahlkampf eine absurde Komponente:
„Von außen betrachtet stehen die Amerikaner vor einer nahezu komischen Wahl - zwischen einem Clown, dessen Visionen den Umfang eines Tweets haben, und einem Mann, der von seiner jüngeren Vizekandidatin gestützt wird. Wenn es sich um irgendein kleines Land handeln würde, könnte man über diesen seltsamen Zirkus lächeln. Doch leider ist diese Wahl dafür zu ernst. Lasst uns hoffen, dass die Amerikaner trotz allem so stark an die Kraft der Demokratie glauben, dass sie zur Wahlurne gehen.“
Karten auf den Tisch
Mit Spannung erwartet La Vanguardia Bidens Nominierungs-Rede:
„Die Demokratische Partei birgt ein Konglomerat vielfältiger politischer Sensibilitäten in sich. Und der Kandidat braucht sie im November alle hinter sich. Jeder hat ihm Unterstützung versprochen, weil Trumps Abwahl eine Priorität darstellt; aber vor allem der von der Kongressabgeordneten Alexandria Ocasio-Cortez repräsentierte linke Flügel erwartet, dass ein Teil seiner Forderungen in ein demokratisches Regierungsprogramm aufgenommen wird. Deshalb kommt Bidens Antrittsrede am heutigen Abend so große Bedeutung zu. ... Weil man sehen wird, welche Allianzen er innerhalb seiner Partei eingegangen ist, um sich als Kandidat vorzustellen, der ein gespaltenes Land wieder einen kann.“
Versöhnung statt Systemwechsel
Berlingske rät Biden, sich nicht von den linksgerichteten Kräften in seiner Partei und deren Ideen vereinnahmen zu lassen:
„Es gibt keinen Bedarf für einen umfassenden Systemwechsel, aber für eine Veränderung des kulturellen und politischen Klimas, in dem Unversöhnlichkeit und Stammesmentalität schon allzu lange die amerikanische Gesellschaftsdebatte auf die Frage des Absäbelns politischer Gegner beschränken. ... Biden hat selbst erklärt, dass er die USA zusammenführen und heilen will. Das ist eine ehrenwerte Ambition, aber bisher nicht mehr als eine Absichtserklärung. Wenn er seinen eigenen Worten Taten folgen lassen will, wäre er klug beraten, sich nicht auf den linken Flügel seiner Partei einzulassen, der Trump mit einem radikalen Linkskurs neutralisieren will. “
Obamas dritte Amtszeit
Ein Wahlsieg von Biden käme fast einer dritten Amtszeit von Barack Obama gleich, analysiert US-Korrespondent Federico Rampini in La Repubblica:
„Obamas Unterstützung ist grundlegend, unverzichtbar, großzügig. ... Auch die Wahl von Kamala Harris, mit ihrer liberalen Biografie und zentristischen Politik, ist hundertprozentig auf seiner Linie. Obama ist Garant für die Qualitäten Bidens gegenüber der demokratischen Basis, die immer noch schwelgt, wenn der ehemalige Präsident das Wort ergreift. Seine Unterstützung für Biden-Harris ist somit der wichtigste Schritt von allen, nicht nur wegen des immensen politischen Kapitals des ersten afroamerikanischen Präsidenten der Geschichte, sondern auch wegen seiner Attraktivität für Minderheiten und junge Menschen. Biden ins Weiße Haus zu bringen, bedeutet für Obama zudem, die offen gebliebenen Rechnungen zu begleichen und Fehler zu korrigieren.“