US-Wahl: Schlammschlacht noch vor dem Endergebnis
Joe Biden geht als Favorit auf die Zielgerade der Stimmauszählung in den USA. Bislang erhielt er knapp drei Millionen Stimmen mehr als Trump – doch genug Wahlleute kann er noch nicht auf sich vereinen. Donald Trump, der sich in der Wahlnacht vorzeitig zum Sieger erklärt hatte, zog unterdessen in mehreren Bundesstaaten gegen die Stimmauszählung vor Gericht. Für Beobachter ein Schlag in die Magengrube der US-Demokratie.
Der Fall der USA als Live-Ereignis
Dass Trump sich vorab zum Sieger erklärt, ist ein Sargnagel für die US-Demokratie, entsetzt sich Novi list:
„Praktisch in Echtzeit können wir den Fall der großen amerikanischen Demokratie beobachten. Wer auch immer am Ende gewinnt, Trump oder Biden: In der Geschichte wird geschrieben stehen, dass Trump seinen Sieg verkündet hat, als erst etwas mehr als zwei Drittel der Stimmen ausgezählt waren. Und dass er gleichzeitig schon verlauten ließ, dass er Betrug und Schwindel sieht und den Sieg vor dem Obersten Gerichtshof ausfechten wird. Mit solch einer Äußerung hat der Präsident der USA sein Land nicht wieder groß gemacht, sondern die erste und größte Demokratie der Welt zugrunde gerichtet. Alles wofür Amerika steht - Freiheit, Demokratie, Stärke der Institutionen und Prozesse - hat er zerstört, weil er mit seiner Nachricht suggeriert, dass die Wahlen nur gelten, wenn er gewinnt.“
Weltmacht am Abgrund
Auch für Fabio Pontiggia, Chefredakteur von Corriere del Ticino, stehen diese Wahlen ungeachtet ihres Ausgangs im Zeichen des Niedergangs der USA:
„Für all diejenigen, die trotz aller Kritik und trotz aller Mängel an die Tugenden der liberalen Demokratie glauben, sind die Nicht-Vorzeigbarkeit Trumps und die Substanzlosigkeit Bidens der Gradmesser für den politischen Niedergang eines großen Landes und einer großen Demokratie. ... Das System der Kandidatenauswahl ist nicht mehr in der Lage, Persönlichkeiten mit Substanz hervorzubringen, zwischen denen das Volk wählen könnte. Von Wahltermin zu Wahltermin müssen wir mit ansehen, wie die USA immer weniger als politisch-institutioneller Bezugspunkt dienen können. Der Wahlkampf zwischen Trump und Biden markiert den Tiefpunkt dieses Niedergangs.“
Wo bleibt der Aufschrei?
Angesichts von Trumps Aussagen noch während der Stimmauszählung hätte sich De Volkskrant vom Rest der Welt mehr Entrüstung gewünscht:
„Es ist bemerkenswert, dass Trumps beispiellose Brüskierung der amerikanischen Wähler und des Wahlsystems kaum internationale Empörung auslöste. Zwar verliehen die Demokratische Partei und die amerikanischen 'mainstream media' (wie das von Trump verhasste CNN) ihrer Wut Ausdruck, und sogar Fox News reagierte empört. Aber während die Welt sonst so laut Schande ruft, wenn sich manche afrikanischen Präsidenten mit Einschüchterungen und haarsträubenden Vorwürfen von Wahlbetrug an die Macht klammern, blieb es jetzt bezeichnenderweise still.“
Das System braucht ein Update
Die US-Demokratie muss erneuert werden, doch dafür gibt es leider keinen Konsens, bedauert Alexander Stille, Dozent für politischen Journalismus an der New Yorker Columbia University, in El País:
„Auch wenn das Endergebnis der jüngsten Präsidentschaftswahlen noch nicht klar ist, steht ein Verlierer bereits eindeutig fest: das US-amerikanische Wahlsystem. ... Die Verfassung der USA, die älteste von allen Demokratien der Welt, benötigt dringend ein Update. Auch das Wahlsystem braucht eine Erneuerung, um Gerechtigkeit, Einheitlichkeit und Legitimität einigermaßen gewährleisten zu können. Aber in so einem gespaltenen Land wird es schwierig sein, den nötigen politischen Konsens für solch gewichtige Reformen zu schaffen.“