Charlie Hebdo: Harte Urteile gegen Angeklagte
Im Prozess um die Anschläge von 2015 auf die Redaktion der Satirezeitschrift Charlie Hebdo und einen koscheren Supermarkt in Paris sind 14 Angeklagte verurteilt worden. Der Hauptbeschuldigte muss für 30 Jahre in Haft. Er gilt als rechte Hand eines der drei Attentäter, die damals von Sicherheitskräften erschossen worden waren. Kann Frankreich jetzt, fast sechs Jahre nach den Anschlägen, abschließen?
Wichtiger Denkanstoß
Für den Chefredakteur von Libération, Dov Alfon, bekommt die französische Gesellschaft durch das Urteil die Chance, sich über ihre Identität zu besinnen:
„Die Versuchung ist groß, in diesem Urteil das Ende eines schmerzhaften Prozesses zu sehen, den Moment der Trauer, und das gilt zweifellos für die Eltern, Kinder und Weggefährten derer, die getötet wurden. ... Aber für die französische Gesellschaft ist keine Trauer möglich und keine Tür verschlossen. Im Gegenteil, die Tür bleibt offen für die Wunden, die die Post-Charlie-Ära wieder aufgerissen hat, für die Spaltungen, die nicht von selbst heilen, für die quälende Frage: Wer sind wir nach Charlie? Es war nicht Aufgabe des Urteils, eine Antwort zu geben, aber in seiner Bestimmtheit bietet es zumindest den notwendigen Moment der Besinnung.“
Keine Katharsis
Die Aufarbeitung der Anschläge benötigt eine tiefergehende Aufklärung der Hintergründe, bemängelt The Irish Times:
„Der Prozess hat den Familien der Opfer möglicherweise geholfen, das Geschehene bis zu einem gewissen Grad zu verarbeiten. Aus gesamtgesellschaftlicher Sicht gab es einen solchen kathartischen Effekt aber nicht. Auf praktischer Ebene ließ das Verfahren wichtige Fragen unbeantwortet. Bei den Angeklagten handelte es sich vor allem um Helfer des Täters Amedy Coulibaly. Das Netzwerk hinter den Brüdern Saïd and Chérif Kouachi konnte bis heute nicht identifiziert werden. Wir wissen weder, wie sie an ihre Waffen kamen, noch, wer von den IS-Milizen oder Al-Qaida die Verbrechen angeordnet hatte - beide Gruppen bekannten sich zu den Anschlägen.“
Frankreich bleibt verletzlich
Von einem Schlussstrich kann keine Rede sein, heißt es auch in Hospodářské noviny:
„Obwohl der Hauptangeklagte und die Gefährtin eines der getöteten Attentäter wirklich schwere Strafen erhalten haben, wiesen sie ihre Verantwortung zurück. ... Der Rückblick zeigt aber noch etwas Ernsteres: Der Schock des Attentats, der den intoleranten politischen Islamismus verkörpert, hatte zwar Zusammenhalt ausgelöst, wie den Pariser Marsch der Politiker unter Präsident François Hollande und Bundeskanzlerin Angela Merkel. Aber das heutige Frankreich bleibt verletzt und verletzlich.“
Die Drahtzieher können weiter frohlocken
Am Ende des Prozesses zeigen sich neue Spaltungen in der französischen Gesellschaft, schreibt Paris-Korrespondent Stefan Brändle in der Aargauer Zeitung:
„Und sie verlaufen nicht nur zwischen Rechten und Linken. Feministinnen wie Elisabeth Badinter kämpfen in Sachen Laizismus und Karikaturen auf der gleichen Seite wie etwa die Rechtspopulistin Marine Le Pen. All die Differenzen gehen letztlich auf das Reizwort Islam zurück - und sie sind seit September nicht etwa befriedet, sondern neu entfacht worden. Das ist umso gravierender, als eigentlich alle Genannten das gleiche Interesse und den gleichen Feind haben - den Terror. Seine Komplizen sind zwar verurteilt; seine Drahtzieher können aber nur frohlocken, dass sie ihre Gegner in der zivilisierten Welt weiter gespalten haben.“