Frankreich: Wird endlich über Inzest gesprochen?
Der bekannte französische Politikwissenschaftler Olivier Duhamel ist von all seinen Ämtern zurückgetreten - kurz vor Erscheinen eines Buchs von Camille Kouchner. Sie beschreibt darin, wie ihr Stiefvater Duhamel ihren Bruder als Kind missbrauchte. Medien fragen sich, ob nun das Tabu bröckelt, mit dem sexualisierte Gewalt in der Familie in Frankreich nach wie vor belegt ist.
Der Anfang vom Ende des Leugnens?
Der Fall steht symbolisch für viele andere, meint Historikerin Laure Murat in Libération:
„Die Opfer verteufeln nicht ihren Täter, sondern stellen ein 'System' in Frage - einen kulturellen Kontext, eine Berufsgruppe, eine Generation, eine Ära, eine soziale Klasse. Dieses System basiert auf einer goldenen Regel: dem Gesetz des Schweigens. ... Pädokriminalität ist oft ein kollektives Verbrechen. Es gibt einen Aggressor und eine undurchsichtige Kohorte von Hilfskräften und Komplizen. ... Überraschung: Olivier Duhamel, über dem jahrelang ein Damoklesschwert schwebte, trat nach der Ankündigung der Veröffentlichung von Camille Kouchners Buch sofort von all seinen Funktionen zurück. Könnte dies der Anfang der Ehrlichkeit sein? Es wäre eine Ehre für Metoo à la française, wenn endlich jemand das Leugnen sein ließe und, wie durch ein Wunder, seine Schuld anerkennen würde.“
Nicht mehr wegschauen
L'Obs hofft, dass die neu eingerichtete Kommission zur Untersuchung von sexualisierter Gewalt an Kindern Früchte tragen wird:
„Wenn es ein Thema gibt, bei dem wir wegschauen, ein Verbrechen, das wir lieber verheimlichen, als uns seiner schmutzigen Realität zu stellen, dann ist es Inzest. Er ist eine der Hauptursachen für sexuelle Gewalt in Frankreich und wird diskret unter dem offiziellen Begriff 'innerfamiliäre Gewalt' geführt. ... Weil er in der Heimlichkeit und Intimität des Hauses verübt wird und weil seine Anprangerung das Gleichgewicht und den Ruf der Familien gefährdet, ist Inzest ein Verbrechen, das von den Opfern häufig verschwiegen wird. ... Die Regierung will diese Verleugnung bekämpfen. Man hat eine Kommission berufen, die der ehemaligen sozialistischen Justizministerin Elisabeth Guigou anvertraut wurde. Hoffen wir, dass die Bemühungen nicht umsonst sind.“