Regierung am Ende: Italien vor weiterer Krise?
Italiens Vier-Parteien-Regierung ist zerbrochen. Am Mittwochabend kündigte Italia-Viva-Führer Matteo Renzi die Mitte-Links-Koalition auf: Premier Conte sei nicht geeignet, das Land in dieser schwierigen Zeit zu führen. Hauptauslöser des Streits war die Verteilung der EU-Coronahilfen. Welche Auswirkungen das auch über Italien hinaus hat, beschäftigt die Kommentatoren.
Pro-europäischer Geist darf nicht verfliegen
Auch für die EU hat der Regierungsbruch eine tragische Komponente, meint der Italien-Korrespondent der Süddeutschen Zeitung, Oliver Meiler:
„Zum ersten Mal seit langer Zeit ist der Zuspruch der Italiener zur EU zuletzt wieder deutlich gestiegen. Natürlich hat das mit dem Recovery Fund zu tun, mit dieser großen Wärme nach der Kälte zu Beginn der Epidemie, als sich Italien alleingelassen fühlte. Conte erwies sich als Europäer, und das war alles andere als absehbar gewesen. Er nutzte die guten Kontakte der Regierungspartner des Partito Democratico und erreichte gegen das Versprechen von Reformen mehr, als man sich in Italien ausgerechnet hatte. Verflöge jetzt dieser neue Geist, kämen gar die Nationalisten an die Macht - es wäre ein Jammer, eine kolossale Verschwendung.“
So dramatisch ist die Lage nicht
Wahrscheinlich wird sich in Rom gar nicht so viel verändern, prophezeit Azonnali:
„Da die Conte-Regierung ihre Mehrheit nur im Senat verloren hat, ist die Situation nicht so dramatisch. Am wahrscheinlichsten scheint, dass Conte in irgendeiner Form weiter regieren kann, entweder mit der Erweiterung der aktuellen Koalition oder dass er erneut einen Auftrag zur Regierungsbildung bekommt. Die Bildung einer Expertenregierung kann man ebenso nicht ausschließen. Viel unwahrscheinlicher ist es hingegen, dass es zu einer vorgezogenen Wahl kommt oder dass ein Mitte-links-Politiker den Regierungsauftrag erhält.“
Was will Renzi eigentlich?
La Repubblica kann die Begründungen für den Rückzug nicht nachvollziehen:
„[Renzis] Gründe lassen sich wie folgt zusammenfassen: Premier Conte sei ungeeignet, Italien in einer entscheidenden Phase seiner Geschichte zu führen, in der die riesigen europäischen Ressourcen für die Modernisierung des Landes genutzt werden müssen und nicht für Klientelismus und Wahlkonsens. ... Um die Widersprüche dieser Position zu finden, muss man nicht lange suchen. Renzi selbst war der Architekt der zweiten Regierung Conte im Sommer 2019, als die Grenzen des Mannes und der neuen Koalition bereits offensichtlich waren. … Und damit nicht genug: Obwohl Renzi Contes Unbeweglichkeit und Trägheit angesichts der Dringlichkeiten (Gesundheit, Schule, Infrastruktur) anprangert, hat er keine Vorbehalte gegen dessen eventuelle Wiederernennung.“
Das haben die Italiener nicht verdient
Die Presse hat kein Verständnis für die politischen Ränkespiele in Rom:
„Einen plausiblen Grund für den Koalitionsbruch mitten in einer Jahrhundertpandemie gibt es nicht: Nicht einmal intern ist klar, was genau das Ziel von Matteo Renzi ist, dem Hauptverantwortlichen des Crashs. ... Im Vordergrund stehen Machtkämpfe und Eitelkeiten. ... Italiener haben im Frühling durch Disziplin und Eigeninitiative bewiesen, dass sie Meister im Krisenmanagement sind. Ärzte und Pfleger haben eigene Grenzen überschritten, Italiens Forscher im In- und Ausland haben wertvolle Erkenntnisse zur Bewältigung der Pandemie beigetragen. Sie alle verdienen nicht dieses verantwortungslose Trauerspiel, das ihre Politiker ihnen derzeit bieten.“
Völlig abgehoben
Italiens Politiker leben offenbar auf einem anderen Stern, poltert La Stampa:
„Früher hat man sich Politiker gern in Elfenbeintürmen vorgestellt, geschützt vor der harten Realität des Lebens. Heute hat man den Eindruck, sie seien in Raumschiffe gestiegen und beobachteten aus Tausenden Kilometern Höhe, was in der Welt und vor allem in Italien geschieht. ... Sie leben von Nachrichten, die sie selbst in einem großen Medienspektakel von Erklärungen und Gegenerklärungen in die Welt setzen. ... In der Tat gibt es fast keine Beziehung zwischen der 'Krise' der italienischen Regierung und den 'Krisen' von Millionen von Bürgern, die auf effektive Maßnahmen zur Verteilung der finanziellen Hilfen warten, von denen sie leben sollen. ... Vergebens warten sie auch auf ein klares Wort zu Themen wie einem detaillierten Impfplan oder der Rückkehr zu einem effizienten Unterricht.“
Irrwitzig, aber auch eine Chance
Die Aargauer Zeitung sieht trotz allem noch ein Fünkchen Hoffnung:
„Mitten in der Covid-Pandemie, mitten im schlimmsten Gesundheitsnotstand seit dem Bestehen der Italienischen Republik eine Regierungskrise anzuzetteln: Was am Mittwoch in Rom passierte, wirkt nur noch absurd und surreal. Die meisten Italiener haben andere Probleme: Millionen von ihnen droht der Abstieg in die Armut, Zehntausende von Betrieben stehen vor dem Aus. ... Eine gemeinsame Vision für Italien haben die Koalitionspartner nie entwickelt. So gesehen, könnte die irrwitzig anmutende politische Krise sogar noch zur Chance für Italien werden: Dann nämlich, wenn sich unter der Regie von Staatspräsident Sergio Mattarella die Parteien ihrer Verantwortung für das Land bewusst würden und Hand böten zu einer Regierung der nationalen Einheit.“