Türkei hat Istanbul-Konvention offiziell verlassen
Nun ist es Tatsache: Die Türkei ist nicht mehr Teil der Istanbul-Konvention zum Schutz gegen Gewalt an Frauen. Präsident Erdoğan hatte den Austritt zum 1. Juli im März per Dekret verkündet. Am Tag des Vollzugs gab es in mehreren türkischen Städten große Protestdemonstrationen. Eine Klage gegen das Dekret hatte das Oberste Verwaltungsgericht zurückgewiesen. Ernüchterung im In- und Ausland.
Nächstes Feindbild in langer Reihe
Erdoğan geht es wieder einmal vor allem um seinen Machterhalt, analysiert die Istanbul-Korrespondentin der ARD, Karin Senz, im Deutschlandfunk:
„Er will seine nationalistische und konservative Wählerschaft weiter bedienen. Vor einem Jahr hat er die berühmte Hagia Sophia in Istanbul wieder zur Moschee gemacht. Aber der Effekt ist inzwischen verpufft. Spektakuläre Militäroffensiven in Nordsyrien sind gerade nicht angesagt. Also müssen jetzt vermeintlich aufmüpfige Frauen und die LGBTI+-Szene als Feindbild herhalten! Dafür riskiert er auch deren Leben. ... Das zeigen nicht nur Hunderte Frauenmorde pro Jahr oft durch den Freund, Ehemann oder Ex-Mann, Vater oder Bruder, sondern auch zahlreiche Übergriffe. Das Signal an diese Männer: ihr habt das Recht dazu, Strafe müsst ihr nicht fürchten. Dass es auch ein nationales Gesetz gegen Gewalt an Frauen gibt, verblasst.“
Propaganda der LGBT-Gegner hat gesiegt
Selbst die regierungsnahe Journalistin Nagehan Alçı bedauert in Habertürk den Ausstieg:
„Die Istanbul-Konvention, die die erste internationale und verpflichtende Regelung ist, die die Gewalt gegen Frauen als eine Menschenrechtsverletzung und Form von Diskriminierung definiert, wurde leider einer völlig falschen Propaganda geopfert. Die hierzulande verfasste Übereinkunft, deren erste Unterzeichner zu sein wir jahrelang alle zusammen mit Stolz behaupten konnten, wurde uns Frauen mit komplett imaginären und absurden Vorwürfen, die Konvention würde die Menschen dazu motivieren, LGBT zu werden, weggenommen.“
Der Kampf geht weiter
Die Protestwelle gegen den Austritt wird Erdoğan nicht so leicht in den Griff kriegen, glaubt La Stampa:
„Die Türkei ist auf die Straße gegangen. In Ankara, Istanbul, Izmir und anderen Großstädten. Zehntausende Demonstranten, meist Frauen, mit Plakaten und lila Kleidern - ein Symbol der Trauer um die über dreihundert Mädchen, Ehefrauen, Freundinnen, Töchter, die jedes Jahr getötet werden. ... Um die Entscheidung zu kompensieren, hat der Präsident am 1. Juli seinen eigenen Plan zur 'Bekämpfung der Gewalt' vorgestellt. … Für Aktivisten und NGOs ist dieser reine Propaganda, nichts als Schall und Rauch. Die Realität ist, dass es in den 20 Jahren, in denen die AKP an der Macht ist, einen Rückschritt in der Stellung der Frauen gegeben hat. ... Der Kampf geht weiter.“