Sind die Nachbarländer der Ukraine auch in Gefahr?
Wenn Moskau Kyjiw de facto den Krieg erklärt, wie steht es dann ums restliche Osteuropa? Könnten Panzer auch nach Estland oder Polen rollen? Oder andere Angriffe anstehen? Kommentatoren diskutieren, worauf sich Europa einstellen muss.
Bedrohlicher Präzedenzfall
Russland ist im Begriff, Osteuropa das Recht des Stärkeren aufzudrängen, warnt Politologe Gérard Grunberg in Telos:
„Die Tatsache, dass Russland das Prinzip einer internationalen Gemeinschaft souveräner Staaten ablehnt, stellt eine Existenzbedrohung für seine Nachbarn dar, zumal Moskau fordert, dass die Nato sich aus ihnen zurückzieht. Denn was sich in der Ukraine abspielt, ist evident. Wenn es offenbar ausreicht, in einen Teil eines Landes einzufallen, um dessen Regime für illegitim zu erklären und es zu zerstören, folgt daraus, dass die jetzt beginnende Phase Osteuropa in einen rechtsfreien Raum zu verwandeln droht, in dem nur das Gesetz des Stärkeren gilt. Und der Stärkere ist derzeit Russland.“
Mit hybriden Angriffen rechnen
Rzeczpospolita warnt:
„Es ist zu erwarten, dass der physische Angriff auf die Ukraine mit einem Cyberangriff auf wichtige Infrastrukturen - Kraftwerke, Raffinerien, Telekommunikationsnetze, staatliche Systeme - einhergehen wird, auch in den Nachbarländern. Durch nichts könnte der Schock bei den Nachbarn der Ukraine mehr verstärkt werden als durch Systemausfälle in Krankenhäusern, Angriffe auf Bankensysteme oder auch so banale Dinge wie den digitalen Führerschein und den digitalen Personalausweis. ... Wir treten in eine Ära ein, in der wir als Gesellschaft gemeinsam lernen müssen, gegen hybride Angriffe, Cyberangriffe und nicht zuletzt Desinformation gewappnet zu sein.“
Es geht nicht nur um die Ukraine
Politiken fordert die Opferbereitschaft des Westens ein:
„Jetzt müssen wir zeigen, dass Konflikte mit allem anderen als Schießpulver, Stahl, Bomben und Blut gewonnen werden können. Wir müssen zusammenstehen. Die Lage erfordert von uns entschlossenes Handeln. Und sie erfordert, dass wir darauf verzichten, uns vorzustellen, mit wie viel Invasion in der Ukraine wir leben können, um so viel wie möglich von unserem eigenen Wohlstand zu retten. Ansonsten ist die Ukraine nur ein Prolog zu einer Welt, in der autoritäre Staaten wie Russland sich vornehmen zu entscheiden, wer wir sein müssen. Wenn wir sein dürfen.“
Europa muss sich neu aufstellen
Europa muss jetzt aufwachen, schreibt Expresso, damit Russland nicht die Sicherheitspolitik des Kontinents immer weiter untergräbt:
„Wenn die europäische Reaktion auf diese Aggression in der Ukraine nicht stark und entschlossen ist, wenn Europa nicht durch eine Neuausrichtung seiner Sicherheits- und Energiepolitik Respekt einfordert, werden alle Länder des ehemaligen Warschauer Paktes eine erstickende Angst verspüren, und in dieser Angst werden die extremistischen und prorussischen Kräfte noch mehr an Gewicht gewinnen, wodurch Putins Traum wahr wird: Europa an den alten Grenzen der EWG zu teilen. Putin weiß, was er in der Geopolitik will. Und was ist mit uns? Reduzieren wir die Geopolitik und die Verteidigung der Werte auf unsere Dusche, die mit russischem Gas erhitzt wird?“