Wie macht Macron ohne absolute Mehrheit weiter?
Nach der zweiten Runde der französischen Parlamentswahl steht fest: Das Bündnis von Präsident Macron bleibt stärkste Kraft, verliert aber die absolute Mehrheit. Zweitstärkstes Lager wird das von Mélenchon geführte Linksbündnis Nupes. Drittstärkste Kraft wird die extrem rechte Partei Rassemblement National von Le Pen. Kommentatoren debattieren, was das für die Zukunft Frankreichs und Europas bedeutet.
Echte Debatten oder der übliche Zirkus
Die französische Autorin Lilia Hassaine beschreibt in El País ihre Vorahnung aufregender Zeiten:
„Der Elysée-Palast wird nicht mehr das Epizentrum der Macht sein. ... Macron könnte versucht sein, die Nationalversammlung in ein oder zwei Jahren aufzulösen. ... Seit Jahren ist sie eine Art Vorzimmer der Macht. ... Von nun an wird sie im Mittelpunkt der politischen Aktivitäten stehen. Im besten Fall nehmen die Bürgerinnen und Bürger an echten politischen Debatten teil und zeigen mehr Interesse. Schlimmstenfalls wird es der übliche Zirkus sein, ein erbärmliches Spektakel, das keiner Partei nützt und die Zahl der Wahlenthaltungen weiter in die Höhe treibt. Wie auch immer, die beginnende politische Periode verspricht spannend und voller unvorhergesehener Ereignisse zu werden.“
Nur einer reibt sich die Hände
Im Gegensatz zu Macrons stark pro-europäisch ausgerichtetem Amtsantritt 2017 ist die Lage in Frankreich nun ganz anders, sorgt sich Le Point:
„Vor fünf Jahren hatte Großbritannien gerade für den Brexit gestimmt, Italien versank im Populismus und Deutschland schickte rund 100 Abgeordnete der extremen Rechten in den Bundestag. Frankreich hob sich davon ab, denn es ließ den Kandidaten von En marche! zu den Klängen der Ode an die Freude in den Elysée-Palast einziehen. Nun äußert es selbst eine tiefe Ablehnung seiner Eliten, zeigt Europa den Stinkefinger und versinkt in den Sümpfen von Isolationismus und Abschottung. ... Es gibt nur einen, der sich angesichts der Schwächung Frankreichs die Hände reibt: Wladimir Putin.“
Putins Freunde gewinnen Einfluss
Redakteur Jurij Pantschenko von der Ukrajinska Prawda und Nadia Kowal, Leiterin der Abteilung für Information und Analyse des ukrainischen Kulturinstituts fürchten, dass ukrainische Belange in Frankreich in den Hintergrund treten:
„Die geschwächte Position von Macron im neuen Parlament wird den Präsidenten dazu zwingen, sich mehr auf die Lösung der innenpolitischen Krise als auf internationale Angelegenheiten zu konzentrieren. Dies würde sowohl eine Schwächung seines Führungsanspruchs in Europa (zugunsten Deutschlands) als auch mehr Handlungsspielraum für 'Putins Freunde' bedeuten.“
Le Pen wird ätzen
Der Politikanalyst Cristian Unteanu befürchtet in Adevărul, dass mit dem großen Zuwachs für die extrem rechte Partei Rassemblement National auf Präsident Macron harte Zeiten zukommen werden:
„Zum ersten Mal in der Geschichte hat die rechtsextreme Partei von Frau Marine Le Pen einen solch riesigen Erfolg eingefahren, dass sie von bislang acht Abgeordneten in der Nationalversammlung auf unglaubliche [knapp] 90 Abgeordnete angewachsen ist! Erstmals wird sie eine eigene Fraktion stellen. ... Es wird für den geschwächten Macron die wichtigste und eine giftige Angriffslinie von extremer Ätzkraft sein.“
Rechtsruck zu erwarten
Habertürk argumentiert, dass eine Zusammenarbeit Macrons mit den konservativen Les Républicains, die auf 61 Abgeordnete kommen, am wahrscheinlichsten zu sein scheint:
„Die Republikaner werden in einigen Fragen mit Macron zusammenarbeiten, zum Beispiel bei der Anhebung des Rentenalters von 62 auf 65 Jahre. Sie könnten aber einen hohen Preis für die Unterstützung im Parlament verlangen, einschließlich eines Wechsels des Premierministers. Schwergewichte der Partei erklärten am Wahlabend, dass sie keine breite Koalition anstreben und in der Opposition bleiben wollten, aber eine konstruktive Rolle im Rahmen der zu erlassenden Gesetze spielen würden. Macrons Regierung, die in der Mitte angesiedelt ist, wird sich unweigerlich nach rechts orientieren müssen.“
Linke punkten mit Schlüsselthema Klimawandel
Tygodnik Powszechny lobt die französische Linke:
„Die Wahl ist zweifellos ein Erfolg für Mélenchon, dem es gelungen ist, die nach den Präsidentschaftswahlen im April stark gespaltene Linke zu vereinen. ... Es ist ein Verdienst der Linken, dass das Schlüsselthema des Kampfes gegen Treibhausgasemissionen endlich im Wahlkampf durchgedrungen ist. Dass das Wahlwochenende in ganz Frankreich und seinen Nachbarländern schweißtreibend war, zeigt die Aktualität des Themas: Im Süden Frankreichs herrschten Temperaturen von über 40 Grad Celsius. Bis zu einem gewissen Grad mag die niedrige Wahlbeteiligung - nur 46 Prozent der Wahlberechtigten gingen am 19. Juni zu den Urnen - auf diese Hitzewelle zurückzuführen sein.“
Intensivkurs in Parlamentarismus nötig
Die Politik muss nun alles daran setzen, Zank und Streit zu vermeiden, mahnt La Croix:
„Dass es nach der Parlamentswahl keinen Gewinner gibt, ist die eine Sache. Man sollte aber dafür sorgen, dass es nicht nur Verlierer gibt. Natürlich wird unser Land nicht plötzlich wie durch ein Wunder die parlamentarische Kultur wiederbeleben. ... Unsere politische Klasse saugt Rangeleien, Paukenschläge und Radikalität schon mit der Muttermilch auf. Diese Haltung hilft vielleicht dabei, gewählt zu werden, aber sie hilft selten beim Regieren. Um eine politische Krise zu vermeiden, sollten alle - allen voran die Abgeordneten - einen Intensivkurs in guter parlamentarischer Praxis absolvieren und sich die die Politik in unseren europäischen Nachbarländer genauer ansehen.“
Frankreichs Wut-Probleme nicht gelöst
Eine schmerzhafte Ohrfeige für Macron sieht die Berliner Morgenpost:
„Der Präsident braucht nun Partner, um Gesetze durchbringen zu können. Das sind die Franzosen nicht gewohnt. Es werden harte fünf Jahre für Macron. Dem Präsidenten ist es nicht gelungen, die tiefe Spaltung Frankreichs zu überwinden. Rechts- wie Linksradikale sind stark in der Gesellschaft verankert und haben Zulauf. Die Gelbwesten-Proteste sind zwar von der Straße verschwunden, aber die Wut der Menschen ist noch da. Keines ihrer Probleme wurde gelöst. Kaufkraft, Energiesicherheit und Rente waren die wichtigen Themen. Und da ist Macrons Bilanz ernüchternd.“
Unbekanntes Terrain betreten
Libération fragt sich, ob Präsident Macron nun seinen Politikstil ändern wird:
„Die kommenden fünf Jahren werden für Emmanuel Macron einer Terra incognita gleichen. Er wird gezwungen sein, zu diskutieren und zu verhandeln. Es ist untertrieben zu sagen, dass der Präsident in dieser Aufgabe bisher nicht geglänzt hat, weder gegenüber Abgeordneten noch gegenüber Gewerkschaften und Verbänden. Dieser Fehler wurde bei der Parlamentswahl bestraft. Der Staatschef hat nun keine Wahl mehr. Ist er dazu bereit?“
Er ist eben nur das geringere Übel
Jutarnji list interpretiert das Ergebnis auch in Bezug auf die Präsidentschaftswahl:
„Der französische Präsident Emmanuel Macron verlor das Vertrauen der Wähler und die Mehrheit möchte nicht, dass er ohne Grenzen weiterregiert. Die gestrigen Parlamentswahlen zeigten, dass er nur Präsident geblieben ist, weil er als das kleinere Übel im Vergleich zur extrem rechten Marine Le Pen wahrgenommen wurde. Das erste Mal in zwanzig Jahren führten die Wahlen zu einem Parlament, in dem der Präsident nicht die absolute Mehrheit hat - eine Situation, die in der Vergangenheit zu unangenehmen Kohabitationen und politischer Lähmung geführt hat.“
Erdrutschsieg für extreme Rechte
Das Erstarken der europaskeptischen Rechten wird auch die Führungsrolle Frankreichs infrage stellen, befürchtet El Mundo:
„Diese Parlamentswahlen kamen einem wahren Erdbeben in der französischen Politik gleich. Sie brachten der rechtsextremen Partei von Marine Le Pen eine Rekordzahl von Sitzen ein, sodass sie nun die drittgrößte Gruppe der Versammlung stellt. ... Von Paris wird erwartet, dass es in einer EU, die durch Herausforderungen wie Russland mehr denn je erschüttert wird, Führungsstärke zeigt. Und das gestrige Ergebnis macht die Sache nicht einfacher.“
Tonangeber der EU wird der Schnabel gestutzt
Eine Instabilität in Frankreich könnte sich auch auf die EU auswirken, fürchtet die Aargauer Zeitung:
„Vor nicht einmal zwei Monaten hatten die Wähler Macron noch komfortabel als Staatschef bestätigt. In Wahrheit stimmten aber viele gegen Le Pen; der Präsident war nur der Nutzniesser. Jetzt schicken ihm die Wähler die Retourkutsche: Soll er im Elysée-Palast walten – aber unter starker Kontrolle! So läuft Gewaltenteilung à la française: Die Parlamentswahl korrigiert die Präsidentschaftswahl. … Die politische Instabilität, vielleicht sogar Blockade in Paris dürfte sich auf die EU auswirken. Frankreich, die nach der Merkel-Ära Ton angebende Nation Europas, ist zu sehr mit sich selber beschäftigt, um noch europapolitische Impulse zu geben.“