Frankreich: Kopf-an-Kopf-Rennen um Parlamentssitze
Nach der ersten Runde der Parlamentswahl in Frankreich liegt das Lager von Präsident Macron (25,75 Prozent) bei den Stimmenanteilen nur ganz leicht vor dem von Mélenchon angeführten Linksbündnis Nupes (25,66). Beim zweiten Wahlgang am kommenden Sonntag geht es darum, ob Macron die absolute Mehrheit der Sitze erreichen kann. Wie kam es zu dem knappen Ergebnis?
Eine Wahl ohne Sieger
Eigentlich kann keine der Parteien mit ihrem Ergebnis zufrieden sein, analysiert Le Point:
„Die Linke ist im Land weiterhin stark in der Minderheit. Im Vergleich zu 2017 hat sie sogar 4,5 Prozent eingebüßt. … Marine Le Pen wirkte am Sonntag ganz aufgekratzt. … Sie kann aber nicht ignorieren, dass sie ihren Status als stärkste Oppositionskraft Frankreichs verloren hat. Die Konservativen entkommen dem klinischen Tod. … Ihre Sitzanzahl in der Nationalversammlung wird jedoch um ein Drittel bis zur Hälfte geringer sein als 2017. Vor allem aber kann niemand behaupten zu siegen oder sich freuen, während die Enthaltung bei der ersten Runde der Parlamentswahlen mit über 52 Prozent einen Rekord in der Fünften Republik erreicht.“
Europäischer Zentrismus steht allein und schwach da
La Vanguardia glaubt, dass Mélenchon eine wichtige Rolle spielen wird, wenn auch nicht als Premier:
„Mélenchon kann als der moralische Sieger der ersten Runde betrachtet werden. ... Laut Prognosen wird Mélenchon sein Ziel, Premier zu werden, kaum erreichen, aber er wird Macrons gesetzgeberische Agenda, insbesondere die Rentenreform, erschweren und sich als Oppositionsführer aufstellen. ... Mélenchon wird Macron alle möglichen Steine in den Weg legen, in der Nationalversammlung und auf der Straße. Und das alles in einem stark polarisierten Land, in dem die Extreme weiter an Boden gewinnen. ... Und in der Mitte bleibt, allein und schwach, der liberale europäische Zentrismus, der vom französischen Präsidenten vertreten wird. “
Macrons Team stigmatisiert jeden Gegner
Der Präsident begnügt sich mit Rundumschlägen, beklagt der Tages-Anzeiger:
„Die Mehrheit der Franzosen hat am Sonntag gar nicht erst gewählt. Bei den unter 35-Jährigen waren es 70 Prozent. Als Emmanuel Macron 2017 zum Präsidenten gewählt wurde, beteuerte er, dass er den Bürgern das Vertrauen in die Politik zurückgeben werde. Fünf Jahre später kann man feststellen: Frankreichs demokratische Kultur hat sich unter Macron nicht nur nicht erholt, sie hat sich verschlechtert. ... Ein großer Teil der Minister und Berater um Macron ist dazu übergegangen, alles, was jenseits der eigenen Allianz stattfindet, als 'Extremismus' zu bezeichnen.“
Frankreich braucht eine neue Debattenkultur
Dass statt inhaltlicher Auseinandersetzungen gegenseitige Anschuldigungen dominieren, liegt auch an Macron, urteilt Der Tagesspiegel:
„Zwar bemühen auch die linke Parteienunion und die Rechtsextremen oft eine solche Rhetorik. Doch die Regierung sollte – und müsste – aus ihrer stärkeren Position heraus einen anderen Ton setzen ... . Eine Sache dürfte dazu beitragen, dass sie davon abgehalten wird: Das Mehrheitswahlrecht führt, ähnlich wie in den USA, zu einer Spirale der Zuspitzung. Deswegen sollte, egal wie der zweite Wahlgang kommenden Sonntag endet, Macron beides angehen: eine Reform der Institutionen – etwa mit der Einführung von Proportionalität bei den Parlamentswahlen. Und den Versuch, eine neue Debattenkultur einzuführen.“
Ergebnis spiegelt soziale Notlage wider
Le Soir glaubt zu wissen, weshalb das Linksbündnis Nupes ein starkes Ergebnis erzielt hat:
„Mélenchon kann stolz sein. Ihm ist ein großer Wurf gelungen. Den ersten Hochrechnungen zufolge erhält allein seine Partei rund 100 Parlamentssitze. Und auch wenn es aktuell so scheint, als ob es ihm nicht gelingt, mit seinen Verbündeten der Nupes Emmanuel Macron eine Kohabitation aufzuzwingen, dürfte er wohl über ausreichend Mittel verfügen, um den Präsidenten in seiner Arbeit zu behindern. Dieses Erwachen der Linken sagt etwas über das Land aus: Es besteht eine soziale Notlage. In einem von der Inflation zermürbten Europa wollen die einfachen Leute in Frankreich nicht vergessen werden. Es ist eine Warnung an Macron.“
Frustriert über Ungerechtigkeiten
Macrons Kalkül, dass ihm eine niedrige Wahlbeteiligung in die Karten spielen könnte, ist nicht aufgegangen, kommentiert La Croix:
„Die Franzosen enthalten sich nicht, weil sie sich nicht für Politik interessieren. Im Gegenteil. Sie wählen wahrscheinlich deshalb nicht, weil sie frustriert sind, dass Ungerechtigkeiten nicht genügend beachtet werden, und weil sie das Gefühl haben, dass sich niemand um ihre Sorgen kümmert. Die Krise des Bildungssystems und der Krankenhäuser, die Klimakrise: Es mangelt nicht an Bereichen, in denen die Bürger konkrete Maßnahmen erwarten. Die Nupes hat ihre politischen Ideen vorgestellt, auch wenn man sie für unrealistisch oder gefährlich halten kann. Macrons Strategie hingegen, den Wahlkampf zu betäuben und auf die Schwächen seines Gegners zu setzen, hat offensichtlich niemanden hinters Licht geführt.“
Schwächung des Präsidenten
Das wird eine harte Amtszeit für Macron, prophezeit La Stampa:
.„Emmanuel Macron geht aus der ersten Runde der Parlamentswahlen geschwächt hervor. Das ist Fakt, unabhängig von der Ziffer hinter dem Komma. ... Die Entscheidung wird in sieben Tagen bei der Stichwahl fallen, wenn in den 577 Wahlkreisen jeweils nur ein Kandidat gewählt wird. Die Hochrechnungen sehen zwar einen deutlichen Vorteil für das Präsidentenbündnis Ensemble. Aber eine absolute Mehrheit wird Macron wohl kaum erreichen. ... Es ist das erste Mal, dass bei einer Parlamentswahl nach einer Präsidentschaftswahl der Gewählte nicht sofort die absolute Mehrheit erhält. Fünf schwierige Jahre liegen vor Macron“
Die Demokratie krankt
Stelios Kouloglou, Kolumnist und EU-Abgeordneter von Syriza, schreibt im Webportal TVXS:
„Immer weniger Franzosen interessieren sich für die Teilnahme an Wahlen. Die Stimmenthaltung erreichte einen Rekordwert von 52,8 Prozent (51,3 Prozent im Jahr 2017). Emmanuel Macron wurde vor fünf Jahren mit dem Versprechen gewählt, die Demokratie wiederzubeleben, und hat völlig versagt. Er wurde im April zum zweiten Mal als das kleinere Übel gegen Le Pen gewählt. Und jetzt will er mit der gleichen Taktik gewinnen, indem er Mélenchon dämonisiert und die Rechte, die extreme Rechte und die fanatische 'extreme Mitte' gegen ihn mobilisiert. Selbst wenn er Erfolg hat: zum zweiten Mal das kleinere Übel, das ist nicht der beste Start. Weder für die französische Demokratie noch für seine Amtszeit.“
Anti-Imperialismus wie im Kalten Krieg
Polityka sieht die französische Linke im Wettbewerb mit rechten Populisten:
„Mélenchon ist ein Anti-Imperialist wie aus Kalten-Kriegs-Zeiten. Als Gegner der kapitalistischen USA fand er warme Worte für Diktatoren wie Hugo Chávez. ... Mélenchon zeigte auch Verständnis für die Interessen Russlands, das sich zu Recht durch die Nato-Erweiterung bedroht fühle; inzwischen hat er aber von solchen Erklärungen Abstand genommen und verurteilt den Krieg öffentlich. Er ist derzeit einer der beliebtesten Politiker der Franzosen. Dies sagt viel über die Entwicklung der Linken in einer Zeit des nationalen Populismus aus. Angesichts der Triumphe von Marine Le Pen will die Linke nicht mehr zentristisch und ausgewogen sein wie die Sozialisten von einst.“