Anschläge in Istanbul
Einen Tag nach der tödlichen Geiselnahme in Istanbul haben Bewaffnete am Mittwoch das Polizeipräsidium der Stadt angegriffen. Eine Angreiferin wurde erschossen, ihr Komplize gestellt. Einige Kommentatoren sehen die Schuld für den mutmaßlich linksextremen Terror klar bei Präsident Recep Tayyip Erdoğan und seinem autoritären Stil. Für andere sind die Drahtzieher der Anschläge weniger offensichtlich.
Erdoğan hat die Geister selbst gerufen
Nach den Attacken in Istanbul hat der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan am Mittwoch angekündigt, das Land werde den Angriffen trotzen. Doch er selbst hat das System erschaffen, das den Terror hervorbringt, lautet das scharfe Urteil der liberalen Tageszeitung La Stampa: "Es scheint Ewigkeiten her, dass die Türkei als eine konkrete Möglichkeit eines politischen Islam erachtet wurde. Ein Islam, der sich nicht nur mit den Prinzipien von Freiheit und Pluralismus verträgt, sondern auch in der Lage ist, eine Alternative für radikale islamische Tendenzen zu schaffen. ... Im Mittelpunkt der Analyse [des Scheiterns des türkischen Modells] muss die Verwandlung der Führungskraft stehen. Erdoğan hat nach und nach immer autoritärere Züge angenommen. ... In der Türkei kristallisiert sich ein politisches System heraus, das, selbst wenn es auch weiterhin auf einem mehrheitlichen Konsens basiert, längst der Kategorie der 'illiberalen Demokratie' zuzuordnen ist."
AKP-System gerät ins Wanken
Hinter den Terroranschlägen und dem landesweiten Stromausfall am Dienstag könnte ein Wahlkampfmanöver stecken, meint die linksliberale Frankfurter Rundschau: "Wollen Kreise um die [islamisch-konservative Regierungspartei] AKP Chaos verbreiten, um sich dann als einziger ernstzunehmender Stabilitätsfaktor zu präsentieren? Tatsächlich ist die einst unangreifbar scheinende AKP in schwere See geraten. Die Konkurrenz zwischen Präsident Recep Tayyip Erdoğan und Ministerpräsident Ahmet Davutoğlu macht ihr zu schaffen, ebenso die kriselnde Wirtschaft, die Flüchtlinge aus Syrien, die Unruhe im kurdischen Südosten. In Umfragen stürzt die Partei ab und ist erstmals seit zwölfeinhalb Jahren in Gefahr, ihre absolute parlamentarische Mehrheit zu verlieren. Damit gerät das gesamte, auf Nepotismus und Klientelwirtschaft ruhende System Erdogan ins Wanken."
Unglaubwürdige Theorie linksextremer Gewalt
Zwar hat die linksradikale DHKP-C den Staatsanwalt am Istanbuler Gerichtshof als Geisel genommen, doch stecken eigentlich andere Kräfte dahinter, vermutet die regierungskritische Tageszeitung Sözcü: "Wurde der Staatsanwalt gefangen genommen und getötet, um die Aufmerksamkeit von Korruption, Diebstahl, Arbeitslosigkeit, der bevorstehenden Wirtschaftskrise und den Bemühungen Erdoğans abzulenken, die Türkei unter dem Namen eines Präsidialsystems an die Leine zu nehmen? Und das zu einer Zeit, da die Unzufriedenheit des Volks größer wird und Stimmenverlust der Regierungspartei zunimmt? ... Der Staatsanwalt wollte nichts verbergen. Seine ganze Energie verwendete er auf die Akten der elf Personen, die während der Gezi-Proteste ihr Augenlicht verloren und der Mordakte Berkin Elvan. ... Es ist offensichtlich, dass er den Mord aufgeklärt hätte. Er vertuschte nichts, er war auf der Seite von Berkin. So einen Staatsanwalt suchten sie sich aus und nahmen ihn als Geisel."