Eine Kathedrale spaltet Rumänien
Rumäniens orthodoxe Kirche lässt in Bukarest die Kathedrale zur Erlösung des Volkes mit gigantischen Ausmaßen errichten. Gegen den Bau und seine Kosten gibt es seit Jahren Proteste, doch Anfang April hat ein Popsong die Debatte neu entfacht. Kommentatoren versuchen zu ergründen, warum das Thema so hohe Wellen schlägt.
Tief gläubig, total zerstritten
Wie sehr das Thema Religion die Rumänen bewegt, erklärt der Soziologe Vintilă Mihăilescu in Dilema Veche:
„In unserer Gesellschaft sind Misstrauen, Unzufriedenheit und Angst vor der Zukunft äußerst ausgeprägt, Millionen von Familien wissen nicht, wo sie eigentlich hingehören. So fragen sich immer mehr Menschen, wer sie sind und wohin sie treiben und die Notwendigkeit nach einem Fixpunkt ist weit verbreitet. Der Glaube und die Familie sind solche Fixpunkte. … Doch im Falle Rumäniens ist die Polarisierung unter den Gläubigen paradox: Schließlich haben sich bei der letzten Volkszählung 96 Prozent zum Glauben bekannt, wir sind die religiöseste Gesellschaft in Europa und weltweit unter den ersten zehn Plätzen. Warum ist diese Masse dann so polarisiert? ... Weil wir wahre Orthodoxe [die keine prunkvollen Gotteshäuser wollen] gegen falsche Orthodoxe sind und damit gegen falsche Rumänen. Sartre sagt, die Hölle, das sind die anderen. In unserem Fall könnte man sagen, die Hölle, das sind wir selbst.“
Proteste kommen viel zu spät
Dass die Musikgruppe Taxi & Friends ausgerechnet jetzt mit einem Song gegen den Kathedralenbau protestiert, lässt den Redakteur des Onlineportals Ziare, Iulian Leca, aufhorchen:
„Wenn Taxi & Friends aktiv geworden wären, als solche Aktionen tatsächlich noch die Entscheidungen von Politikern hätten beeinflussen können, die den Bau mit Geld, Gesetzen, einem Grundstück und Kampagnen unterstützten, dann hätte ich vor der Gruppe den Hut gezogen. Doch jetzt, wo der Bau fast fertig ist, ist ihre Aktion verdächtiger als jede Ästhetikanalyse. Der Song ist eine armselige PR. Es ist so, als ob eine Gruppe Erwachsener die Schulfenster mit Steinen beschmeißt, um sich für die Leiden ihrer Pubertät zu rächen. Die große Chance dieses traurigen Songs ist, dass er die wahren Gläubigen zur Weißglut getrieben hat. Auch sie wollen sich für das Elend der Gegenwart rächen, mit dem Bau eines Monstrums aus Beton - der größten Kathedrale Südosteuropas und durch den Stolz eines Volkes, das religiös erwacht ist, als alle anderen schlafen gingen.“
Rumänen fehlt die Debattenkultur
Die Debatte um den Protestsong gegen den Bau der Kathedrale in Bukarest verlief oftmals unter der Gürtellinie, analysiert Mircea Vasilescu auf dem Blogportal Adevarul:
„Woher kommt diese unverhältnismäßige Reaktion? Eine Antwort kann ich nicht geben, aber eine Hypothese. Seit Jahren ist unser öffentlicher Raum voller emotionsgeladener Gefühle. ... Dieser Raum wird von Talkshows im Fernsehen bestimmt, die perfekte Beispiele dafür sind, wie man nicht debattieren sollte. Die Leute wissen einfach nicht mehr, wie man miteinander redet, argumentiert und dem anderen zuhört. ... Das Fernsehen weckt nicht nur negative Emotionen, es fördert auch das Nicht-Denken. … Die unverhältnismäßige Reaktion auf dieses Liedchen scheint mir solch ein typischer Fall für das Nicht-Denken. Es ist unsinnig, zu glauben, dass man mit diesem Lied der Kathedrale schaden kann. Vielmehr beweist es einmal mehr das alte Grundprinzip unserer Gesellschaft, das schon zu Zeiten des Stalinismus eifrig umgesetzt wurde: Wer nicht mit uns ist, ist gegen uns.“